Gedanken zur Tageslosung am Mittwoch, den 5. August 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Der HERR, der gütig ist, wolle gnädig sein allen, die ihr Herz darauf richten, Gott zu suchen." 2 Chr 30,18-19

 

Meine Schwester studierte zeitgleich mit mir in Leipzig. Sie war in der medizinischen Fakultät eingeschrieben. Einmal, es war ein gemütlicher Samstag, erzählte sie mir, dass sie noch in die Anatomie müsse, da ein Testat der "Histologie" anstünde. Ich fragte sie, was das sein soll. Sie antwortete: Es gehe um die menschliche Gewebekunde, d. h. um die menschlichen Organe, als hauchdünne Schnitte zu Präparaten verarbeitet, die man unter dem Mikroskop zu erkennen und zu beschreiben habe. Da es ein schöner Tag war und ich gerade nichts anderes zu tun hatte, begleitete ich sie und lieh mir ebenfalls die säuberlich in einem Kasten aufgereihten Präparate mitsamt einem Mikroskop aus und versuchte mich.

 

So schaute ich in das Innere des menschlichen Körpers: Herzmuskel, Speicheldrüse, Haut, Magen, Darm usw. Ich weiß noch wie heute, dass ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Ich hatte nicht für möglich gehalten, wie interessant, schön und abwechslungsreich die Organe des Menschen in Wahrheit aussehen, wenn man sie genau betrachten kann. Mal glichen sie einem aufgewühlten Meer, dann wieder einer Blumenwiese oder einer abstrakten Landschaft. Bei manchen, besonders schönen Präparaten fragte ich nach, was es eigentlich sei, das ich da sehe. Und siehe, alles hatte seine schöne Ordnung und Funktion.

 

Der Gedanke liegt nahe, dass, wenn man noch stärkere Vergrößerungen und noch bessere Instrumente besäße, man noch tiefer in diese Welt sehen könnte. Fände man wohl ein noch kleineres Universum und in diesem verborgen noch eins und dann noch eins? Setzte sich dieser Vorgang ins Infinite fort oder käme er einmal an ein Ende? Ließe sich so tief in die Schöpfung eindringen, dass man am Ende Gott selbst begegnen müsste als Ur-Substanz allen Seins? Ich weiß, dass diese Fragen etwas albern sind und ihre Beantwortung nur so ähnlich lauten könnte wie die des Archimedes, der versprach, die ganze Erde auszuhebeln, wenn man ihm einen einzigen festen Punkt zeigte.

 

Warum erzähle ich das? Weil wir fragend vor dem Rätsel der Welt und unseres In-der-Welt-Seins stehen und, je genauer wir hinsehen, desto tiefer in das Staunen geraten. Ich hätte übrigens nicht an das Mikroskop, sondern auch an das Teleskop erinnern können, das in die fernsten Fernen des Weltalls zu sehen vermag. Der Schluss wäre ähnlich gewesen. Oder ich hätte mein eigenes Leben, eine schier endlose Kette von Ereignissen, Begegnungen und Gedanken, betrachten können, die mein Ganzes So-Sein in der Summe ergeben, das mich, meine Person in ihrem Geworden-Sein ausmacht. Seht, so und nicht anders habe ich wachsen und werden dürfen. Der Schluss wäre wiederum derselbe gewesen: ein einziges Staunen. Das Staunen steht, das wussten die Alten, schon immer am Anfang. Es begründet jede Frage.

 

Die Formulierung unseres Verses ist poetisch schön. Es ginge darum, "das Herz darauf zu richten, Gott zu suchen". Hier drückt sich aus, dass die Gottessuche nicht eine Leistung des Verstandes sein kann. Als solche wird sie, wenn sie auch in interessanteste Tiefen vorstieße, sich immer nur wieder im Vorletzten wiederfinden.

 

Es gilt hier nicht den Verstand, sondern das Herz. Auch das Herz ist rastlos, schlägt und sucht Gewissheit. Doch ist die Herzenserkenntnis eine unmittelbarere, elementarere und existentiellere. Wenn wir "Herz" sagen, reden wir von Liebe. Die müssen wir finden, sonst sind wir verloren. Die Suche des Herzens gilt nicht dem Wissen von Mikro- oder Makrostrukturen der Welt - so interessant diese sein mögen. Es liegt mein Wohl und Wehe nicht daran, ob ich diese diffizilen Details kenne und verstehe.

 

Meinem Herzen liegt aber an etwas anderem. Ihm geht es um die Gewissheit, dass ich nicht im Nichts oder im All verloren umherirre, dass ich ein Woher und ein Wohin habe, dass das Chaos des Seins in der Welt und in mir gebändigt werde und dass mein Weg an der Seite derer, die ich lieb habe, zu einem guten Ziel komme. Das ist wirklich wichtig. Hier ist das Herz unruhig und sucht und fragt. "Woher kommt mir Hilfe?" Es fragt nach Gott und seinem Handeln in der Welt. Es sucht die Liebe jeden Tag neu.

 

"Da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen." Lk 19,2-3

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019