Gedanken zur Tageslosung am Sonnabend, den 1. August 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Ich komme, um alle Völker und Zungen zu versammeln, dass sie kommen und meine Herrlichkeit sehen." Jes 66,18

 

Der Abersee im Salzburger Land, an dem ich Urlaub machen darf, heißt schon lange Wolfgangsee. Ich bin heute auf dem mittelalterlichen Pilgerweg, der von der Stadt meines Namenspatrons St. Gilgen aus ostwärts in Richtung St. Wolfgang gelaufen. Man liest, die Kirche von St. Wolfgang sei nach Rom und Santiago de Compostela der wichtigste Pilgerort von europäischem Rang gewesen. Die letzte Strecke ist ein herrlicher Weg hart am Ufer des schimmernden Sees entlang. Auf halber Strecke aber muss man über den Falkenstein, einen Felsen, der ein letztes Hindernis darstellt. Es ist mühsam, ihn zu erklimmen. Seit 800 Jahren gibt es diesen geistlicher Weg mit mehreren Stationen. Ganz oben befindet sich - gedacht als Felsen Golgatha - eine kleine Kreuzigungskapelle. Christus und die Schächer sind darin fast lebensgroß dargestellt.

 

Zu beiden Seiten des Weges gibt es ein letztes, merkwürdiges Zeugnis dafür, dass hier einst Menschen aus allen Völkern und Zungen herbeigekommen waren. Rechts und links der Kreuzigungskapelle liegen große Steinberge. Steine finden sich in allen Größen, darunter auch kiloschwere Felsstücke. Sie sind in großer Zahl hier abgelegt worden. Man kann lesen, dass sie auf eine besondere Bußübung der Pilger zurückgehen. Die machten sich den Weg besonders schwer, indem sie Gesteinsbrocken am Fuße des Berges auflasen und in die Höhe trugen. Dort legten sie sie zu Füßen des Kreuzes ab.

 

Es hat mich berührt, dass sie mit ihren Steinen zum Kreuz Jesu kamen. Was sahen sie dort? Sie sahen seine Herrlichkeit. Indem sie sie sahen, wurden sie frei von der Last, die sich mit sicher herumschleppen. Denn das Kreuz Jesu macht ja frei. Es ist uns ein Heilszeichen, weil wir in ihm erlöst werden. Das ist ja gerade das Evangelium, aus dem wir leben.

 

Die Reformatoren haben bekanntlich mit all dem falschen Heiligen- und Pilgerwesen aufgeräumt. Sie haben in ihm seinerzeit nur eine kommerzialisierte, "werkgerechte" Praxis sehen können, wonach der Gläubige mit Zittern und Zagen sein eigenes Heil zu wirken versucht, indem er sich fromme Leistungen, gute Werke, Spenden, Stiftungen und ein erzwungenes "Bessermenschentum" abringt. Das, sagten sie, sei die schlimmste aller Gottlosigkeiten und Ausdruck eines fatalen Unglaubens. Ich stimme ihnen zu. Auch heute ist dieser Irrglaube in etwas anderem Gewand, z. B. in einer moralisierenden Verkündigung, die das Evangelium verwechselt mit einem Aktionskatalog dessen, was man als Christenmensch zu tun und zu lassen, zu sagen oder zu verschweigen habe, noch hoch im Kurs. Hier behält die reformatorische Kritik an der vermeintlichen Selbsterlösung der Menschheit ihr volles Recht.

 

Dass sich der Glaube aber einen Ausdruck sucht, dass er in der Welt gelebt sein und sichtbar werden will und dass es symbolischer Handlungen bedarf, die das froh und frei machende Evangelium auszudrücken versuchen, das ist etwas sehr schönes. Hätte ich vorher von dem alten Brauch gewusst, ich hätte auch einen Stein mit hinauf genommen und bei den vielen, die dort schon lagen, abgelegt.

 

In Jesus Christus ist Gott gekommen, um alle Völker zu versammeln, dass sie seine Herrlichkeit sehen. Wir leben aus dieser Tat Gottes, der wir nichts hinzufügen können oder müssen. Nur dass wir sie annehmen und denen, die es nicht wissen, vorleben, dass es sie entlastet und befreit. "Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen." Röm 10,12

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019