Gedanken zur Tageslosung am Dienstag, den 30. Juni 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Mein Herz hält dir vor dein Wort: 'Ihr sollt mein Antlitz suchen.' Darum suche ich auch, HERR, dein Antlitz." Ps 27,8

 

Der Schriftsteller Günther Anders erzählt in seiner Kurzgeschichte "Chronik" vom chinesischen Maler Li, der eines Nachts auszog, einen herrlichen Felsen im lieblichsten Mondlicht zu malen. Er setzt sich nieder und beginnt. Als er nach einer Stunde fertig ist, vergleicht er die Zeichnung mit der Wirklichkeit. Doch alles hat sich in Form und Farbe verändert. Das Felsmassiv, der Himmel und der Mond. Es ist jetzt noch viel schöner. Er beginnt erneut. Nach einer weiteren Stunde dasselbe. Und nach einer dritten, vierten und fünften wieder dasselbe - bis zum Anbruch des neuen Tages. Jede Ansicht war interessanter gewesen als die vorige. Das Bild ist nicht fertig. Er hat nur eine Reihe von Skizzen dabei. Als er nach Hause kommt, fragt ihn seine Frau, wo das Bild sei. "Wolltest du nicht den Berg festhalten?" fragt sie. Er antwortet: "Er hat nicht festgehalten." Sie blättert die Skizzen durch und sagt verächtlich: "Eine Chronik statt des Berges!" Er darauf: "Und wie, wenn der Berg selbst nichts wäre als eine - Chronik?" Eine kleine Geschichte zum Nachdenken. Es geht um unser Vermögen, die Wahrheit zu erkennen.

 

Gott suchen ist und bleibt die Aufgabe des Menschen. Es ist vielleicht sogar das, was den Menschen besonders auszeichnet. Dürfen wir so weit gehen, zu behaupten, dass diese Suche den Menschen erst eigentlich zum Menschen macht?

 

Ist Gott in der Höhe? Manches spricht dafür. Manches dagegen.

Ist Gott in der Tiefe? Manches spricht auch dafür. Oder nicht?

Ist Gott im Wort? Gewiß. Aber ausschließlich?

Ist Gott in der Tat? Wer wollte das bezweifeln. Aber nicht in jeder.

Ist Gott im Jenseits? Ja. Aber in gewisser Hinsicht nicht.

Oder im Diesseits. Ja, auch. Aber er geht nicht in ihr auf.

Ist Gott in dir? Doch, freilich. Du spürst nichts davon?

Und in mir? Ich glaube schon. Aber ich bin doch ein Sünder.

Ja wo ist er denn nun? Wo lässt er sich finden? Das ist ja nicht zu fassen.

 

Gott ist nicht zu fassen. Das steht fest. Dafür gibt es einen Grund. Er beugt sich meinem Fassungsvermögen nicht. Auch stanzt sein Sein nicht ein in mein Hirn, so dass ich auf eine festgefügte Signatur in mir zurückgreifen könnte. Er hat keine Freude an gehirngewaschener Einheitserkenntnis seiner Herrlichkeit. Dazu ist ihm der Mensch zu wertvoll, zu lebendig, zu schöpferisch, zu gedanken- und erlebnisreich. Er will sich finden lassen, aber wo und wie und wann - das ist wie mit dem Wind, "der bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt." (Joh 3,8)

 

Es fällt auf, dass unser Vers nicht vom Finden spricht. Er redet im strengen Sinn vom Suchen. Hier erscheint diese Suche als ein unabgeschlossener Weg. Den Christen ist zwar auch das Finden verheißen. Aber es gleicht wohl eher einer jedesmaligen Begegnung auf dem Weg, einem freudigen Innewerden? Und dann führt der Weg wieder weiter und neue Begegnungen werden geschehen. Ein neues Hören seines Wortes, eine neue Berührung durch sein Sakrament.

 

Soll das so sein? Ich denke: Ja. Denn wie könnte die Schau des Ewigen je abgeschlossen sein und zu einem letzten Ziel kommen? Das Antlitz Gottes  - das ist Christus - wird wohl nicht ein für alle Mal geschaut, sondern immer wieder und immer wieder neu. Es lebt in uns. Das ist etwas sehr Schönes. Es ist Ausdruck der Lebendigkeit des Glaubens. In der Gemeinschaft der Gläubigen, verbunden durch ein und dasselbe Glaubensbekenntnis des ewigen dreieinigen Gottes, bergen wir, jeder in sich, so viele lebendige Gottesbegegnungen, die den Reichtum der Kirche ausmachen.

 

Dabei ist unsere Gottesschau eine Antwort. Das Wort Gottes: "Ihr sollt mein Antlitz suchen" geht unserer Suche stets voraus. Er hat die Ewigkeit in unser Herz gelegt (Pred. 3,11) Unser Suchen ist nicht ein mühsames Martern des Hirns. Es bedeutet, Gott dort zu sehen, wo er sich finden lässt. Wo wir mit ihm verbunden sind, wird er nicht lange auf sich warten lassen.

 

"Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden!" Phil 4,6

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019