Predigt am Sonntag Invocavit, den 6. März 2022, 2Kor 6,1-10

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Sonntag Invocavit, den 6. März 2022, 2Kor 6,1-10

 

IN MEMORIAM Anne Gisela Voigt (+ 4. März 2022)

 

1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. 2 Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! 3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; 4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben. 2Kor 6,1-10

 

Der 29. Mai 1944 ist ein denkwürdiger Tag. Dietrich Bonhoeffer schrieb einige Zeilen aus dem Gefängnis. Er formuliert darin eine Beobachtung, die er bei den Menschen, die ihn umgaben, gemacht hatte; wahrscheinlich auch bei sich selbst: „... es gibt so wenige Menschen, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können; wenn die Flieger kommen, sind sie nur Angst … wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt, wenn ihnen etwas gelingt, sehen sie nichts anderes mehr.“ Es drückt sich darin unser Hang zu einer ganz entsetzlichen Einseitigkeit unseres menschlichen Denkens und Empfindens aus. Ich jedenfalls erkenne mich wieder. Aber die Worte des Apostels Paulus, die wir soeben gehört haben, lehren uns, dass eine so einseitige Sicht der vielschichten Wirklichkeit unsers Lebens nicht gerecht wird.

 

Es hat die Leute aller Zeiten stutzig gemacht, dass der Apostel Paulus eine ganze Kaskade von Paradoxien benennt, die dem christlichen Glauben innewohnen. Denn wir sind eigentlich gewohnt zu behaupten, dass gegensätzliche Aussagen nach unseren Vernunftregeln keinen Bestand haben dürfen. Aber sie sind von überragendem Charme; sie haben etwas außerordentlich Verwegenes und Abenteuerliches an sich.

 

Gleich zu Beginn kontrastiert der Apostel ein alttestamentliches Wort, wonach Gott seinem leidenden Volk einst sein Heil zugewandt habe, mit der gedoppelten Aussage: "Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, jetzt ist der Tag des Heils!" Das überrascht deshalb, weil wir uns angewöhnt haben, unsere Lebenssituation eher als mühselig und beladen zu betrachten und sehr viel mehr Unheil als Heil erblicken. Viele Menschen empfinden es so, dass sie sich tagtäglich eher durchs Leben schleppen müssen und alles in allem froh sein können, wenn sie vor bösen Zeiten und schmerzhaften Schicksalsschlägen halbwegs verschont bleiben. Ein guter Tag scheint ihnen ein solcher zu sein, an dem möglichst wenig Garstiges passiert. Jeder möge sich fragen, ob er nicht einer solchen eher armseligen, kleingläubigen und einseitigen Lebenssicht verhaftet ist. Aber da stimmt etwas nicht!

 

Der Apostel hat uns jedenfalls in diesem Punkt durchschaut und stellt dagegen: Wusstest ihr nicht, dass euer Heil schon längst in die Welt gekommen ist, unübersehbar und unwiderruflich, so dass es für den Christgläubigen schon seit 2000 Jahren keinen einzigen unheiligen Tag mehr geben kann? Wie könnt ihr das gering schätzen? Wenn ihr es nicht wahr sein lasst, dann weist ihr das Heil, das mit Jesus Christus ein für alle mal in die Welt gekommen ist, zurück. Denn ein Heil, das trotz seines Leidens, Sterbens und Auferstehens nur bruchstückhaft oder defizitär für uns Gültigkeit hätte, wäre keines, sondern nur eine blasse, im Erlöschen begriffene Erinnerung.

 

Ist das nicht paradox, sich mitten im Unheil der Welt in Gottes Heil geborgen zu wissen? Ja, das ist paradox; ehrlich gesagt, das Leben ist von Paradoxien durchtränkt. Es will sich unseren Vorstellungen partout nicht fügen. Es gibt ganz offensichtlich andauernd einander widerstreitende Kräfte und Entwicklungen. Ein großes Ganzes will einfach nicht entstehen.

 

Und nun illustriert der Apostel das Heil im Unheil wiederum mit einer krassen Reihe von Paradoxien, die im Glauben gelten sollen. Das klingt abenteuerlich. Er sagt es so: Als Diener Gottes seien die Gläubigen wie Verführer, aber wahrhaftig; Unbekannte, aber doch bekannt; Sterbende, die aber leben; Gezüchtigte, aber nicht getötet; Traurige, aber allezeit fröhlich; Arme, aber reich; Besitzlose, die aber alles haben.

 

Was soll das? Warum spricht er so? Wieso setzt er Minus und Plus so streng ineinander?

 

Ich würde das als Ausdruck eines hohen und im Letzten tröstlichen Realismus deuten, den der Apostel hier an den Tag legt. Denn er vermeidet offenbar jede Einseitigkeit. Sein Reden muss paradox sein, weil jede Einseitigkeit nur die halbe Wirklichkeit erfassen könnte.

 

Nur das Minus zu benennen müsste in die Verzweiflung führen. Alles, was über die Situation des Menschen zu sagen wäre, erschöpfte sich nämlich in Verführung, Unwissen, Sterben, Gewalt, Traurigkeit, Armut und Mangel. Das wäre entsetzlich trostlos. Bloß gut, dass es nicht die ganze Wahrheit ist.

 

Umgekehrt verheißt der Apostel dem Gläubigen auch nicht nur das Schöne von Wahrhaftigkeit, Erkenntnis, Lebendigkeit, Trost, Fröhlichkeit, Reichtum und Überfluss. Denn das hieße, die Härten der Wirklichkeit in Schwärmerei und Träumerei aufzulösen. Das hat mit unserer Wirklichkeit auch nicht viel zu tun. Das wäre also auch nicht die ganze Wahrheit.

 

Der Apostel Paulus predigt, wenn ich so sagen darf, einen paradoxer Realismus. In dieser Spannung steht das Christenleben über den Tod hinaus. Hinter allem in dieser Welt steht das Kreuz Jesu als Zeichen des Leidens und Sterbens - und, völlig paradox, als Zeichen des ewigen Lebens.

 

Im übrigen glaube ich, dass die Völker Europas, wollen sie leben, ihr Vertrauen wieder in den paradoxen Doppelcharakter des Kreuzes setzen müssen.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019