Predigt zu Epiphanias, den 6.1.2022, Joh 1,15-18

von Pfarrer Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Epiphaniastag, 6.1.2022, Joh 1,15-18

 

Johannes zeuget von ihm, rufet und spricht: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist, denn er war eher denn ich. Und von seiner Fülle haben wir genomme

n Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben. Die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Niemand hat Gott je gesehen, der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündiget.  Joh 1,15-18

 

"Gnade" - ich habe kürzlich mit einigen jungen Leuten überlegt, ob dieses Wort heute noch irgendwo verwendet wird. Uns ist ihnen nichts eingefallen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass in unserer Gegenwart das Wort so selten geworden ist . Ist die Sache, nämlich gnädig zu sein oder Gnade zu üben, nicht mehr so wichtig? Mir scheint es fast so.

 

Der Stamm "Gnade", sagte jemand von den jungen Leuten, finde sich umgangssprachlich eigentlich nur noch in dem Negativen Adjektiv "gnadenlos". Da kommen zuweilen auch komische Formulierungen heraus, wie z. B. dass jemand "gnadenlos ehrlich" sei. Das will nicht recht zusammen passen. Inwieweit sollen Ehrlichkeit und Gnadenlosigkeit zusammengehören?  Wäre nicht eine ehrlich gemeinte Gnade das allerschönste, das sich denken lässt? Und ist die Umkehrung wahr, so dass Unehrlichkeit eine Gnade wäre? Kann eine Untugend je die schönste aller Tugenden ersetzen? Nein, das ist wohl nicht der Fall. Halten wir fest, unsere Verwendung von "Gnade" ist kurios, verkürzend und zuweilen unsinnig.

 

Man sagt gern und lehrt es Schüler und Konfirmanden, dass die Ausgangsfrage der Reformation die Frage Martin Luthers gewesen sei: "Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?" Dahinter steht die ehrliche und unausweichliche Einsicht, dass sich Gott vom Menschen geradezu abwenden muss, da des Menschen Gedanken, Worte und Werke erschütternd niedrig und gemein sind. Ist er nur ein Quäntchen ehrlich zu sich selbst, dann weiß er auch um seine erbärmliche Rolle und die scheinbar unausrottbaren, nur halb und halb bewussten, sehr realen Regungen von Neid, Hass, Geiz, Überheblichkeit und Besserwisserei, um nur einige zu nennen. "Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst" findet sich da selten.

 

Es gehört zu den Auffälligkeiten unseres gegenwärtigen Sprachgebrauchs, dass das Wort "Gnade" fast nur noch im kirchlichen Raum Verwendung findet. Aus dem Munde Johannes des Täufers heißt es, dass wir von der Fülle Christi "Gnade um Gnade" empfangen und dass  uns in Christus "Gnade und Wahrheit" begegnen. Solch überschwängliche Aussagen über die Gnade müssten uns eigentlich überraschen.

 

Denn es wäre doch ganz selbstverständlich, dass Gott als gerechter Gutachter und Richter uns fallen ließe und ein niederschmetterndes Urteil abgäge. Aber seit Jahrtausenden sind die Christgläubigen immer wieder voller Überraschung, weil sie im Herzen Gottes eine ganz andere Qualität erblicken. Denn er ist scheinbar gar nicht von stählerner Gerechtigkeit, voll objektiver Unbestechlichkeit oder konsequenter Unerbittlichkeit. Das macht ihn nicht aus. Seine hervorstechende Charaktereigenschaft (wenn ich das so sagen darf) ist, dass er gnädig ist, aus der Tiefe seines Herzens heraus.

 

Das bedeutet: Der Gott, den wir verkündigen, ist barmherzig, zugewandt, vergebungsbereit oder, mit einem schönen Wort Martin Luthers, er "sieht durch die Finger", d. h. er rechnet nicht peinlich auf, er legt nicht auf die Goldwaage und fällt kein vernichtendes Urteil.

 

Solch einen Gott haben wir. Nun fragt sich, woher Johannes das so genau weiß. Er sagt doch selbst, dass niemand Gott jemals gesehen habe. Wie auch, da Gott der Jenseitige ist, um den unsere Rede nur mühsam kreisen kann, den wir mit Superlativen und Worten, die sich ins Allerweitläufigste erstrecken,  als den Höchsten oder Ewigen oder Gewaltigen oder Allmächtigen oder Allgegenwärtigen beschreiben. Ich habe ihn eben nicht in der Erhabenheit eines Sonnenaufgangs, in der Betrachtung des Alls oder in der Schönheit eines Kunstwerks. Das alles bleibt doppeldeutig und anonym.

 

Gott ist in uferlosen Begriffen nicht zu fassen. Wir ahnen und wissen es auch. Ja, wir müssten wohl selbst Gott sein, um ihn letztlich zu erkennen. Denn Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden. Übrigens auch in die andere Richtung; ich weiß nicht, was ein Eichhörnchen denkt oder ein Fuchs, weil ich keins von beidem bin. Ich kann vielleicht erahnen und vermuten, wie es sich verhält, aber wissen kann ich es nicht.

 

In dieser Situation der Unfähigkeit des Menschen, Gott gleich zu sein, hat sich Gott umgekehrt entschlossen, den Menschen gleich zu werden. Aus genau diesem Grunde ist er Mensch geworden, auf dass wir ihn im Menschen erkennen können. Wir kommen vom Christfest her, der Geburt Gottes in diese Welt. Heute feiern wir sein "Erscheinen" in dieser Welt, als bei seiner Taufe im Jordan die Stimme erklang: "Dies ist mein lieber Sohn!" Überhaupt ist die Geschichte Jesu von Nazareth zugleich immer die Geschichte der Epiphanie Gottes in dieser Welt geblieben, z. B. als die Leute unter seiner Berührung gesund wurden, unter seiner Predigt aufhorchten und mit dem Apostel Petrus bekannten: "Du bist der Christus".

 

So hören, sehen und glauben wir. Gott erschien in einem Menschen. Und was es mit einem Menschen auf sich hat, wie der denkt und fühlt, das wissen wir, da wir selbst Menschen sind.

 

Gott offenbart sich als Mensch und deckt auf diese Weise die Wahrheit über sich auf. Diese Wahrheit heißt, dass er voller Gnade und Barmherzigkeit mit seinen geliebten Menschen verfährt. An uns ist es, "Gnade um Gnade" zu empfangen und aus der Fülle seiner Gnade weiterzugeben in diese Welt, die seiner Gnade so sehr bedarf.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019