Predigt am Ostermontag, den 10.04.2023, Lk 24,13-35

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Ostermontag, den 10.04.2023, Lk 24,13-35

 

Vnd sihe / zween aus jnen giengen an demselbigen tage in einen Flecken der war von Jerusalem sechzig Feldwegs weit / des namen heisst Emmahus. 14 Vnd sie redeten mit ein ander von allen diesen Geschichten. 15 Vnd es geschach / da sie so redeten vnd befragten sich mit einander / nahet Jhesus zu jnen / vnd wandelte mit jnen / 16 Aber jre augen wurden gehalten / das sie jn nicht kandten. 17 Er sprach aber zu jnen / Was sind das fur rede / die jr zwischen euch handelt vnter wegen / vnd seid trawrig? 18 DA antwortet einer mit namen Cleophas / vnd sprach zu jm / Bistu allein vnter den Frembdlingen zu Jerusalem / der nicht wisse / was in diesen tagen drinnen geschehen ist? 19 Vnd er sprach zu jnen / Welchs? Sie aber sprachen zu jm / Das / von Jhesu von Nazareth / welcher war ein Prophet / mechtig von Thaten vnd Worten / fur Gott vnd allem Volck / 20 wie jn vnser Hohenpriester vnd Obersten vberantwortet haben / zum verdamnis des Todes / vnd gecreutziget. 21 Wir aber hoffeten / er solte Jsrael erlösen. Vnd vber das alles / ist heute der dritte tag / das solchs geschehen ist.22 Auch haben vns erschreckt etliche Weiber der vnsern / die sind früe bey dem Grabe gewesen / 23 haben seinen Leib nicht funden / Komen vnd sagen / sie haben ein gesichte der Engel gesehen / welche sagen / er lebe. 24 Vnd etliche vnter vns giengen hin zum Grabe / vnd fundens also / wie die Weiber sagten / Aber jn funden sie nicht. 25 VND er sprach zu jnen / O jr Thoren vnd treges hertzen / zu gleuben alle dem / das die Propheten geredt haben / 26 Muste nicht Christus solches leiden / vnd zu seiner Herrligkeit eingehen? 27 Vnd fieng an von Mose vnd allen Propheten / vnd leget jnen alle Schrifft aus / die von jm gesagt waren. 28 VND sie kamen nahe zum Flecken / da sie hin giengen. Vnd er stellet sich / als wolt er fürder gehen / 29 Vnd sie nötigeten jn / vnd sprachen / Bleib bey vns / Denn es wil abend werden / vnd der tag hat sich geneiget. Vnd er gieng hin ein bey jnen zu bleiben. 30 Vnd es geschach / da er mit jnen zu tische sass / Nam er das Brot / dancket / brachs / vnd gabs jnen. 31 Da worden jre augen geöffnet / vnd erkenneten jn. Vnd er verschwand fur jnen. 32 VND sie sprachen vnternander / Brandte nicht vnser Hertze in vns / da er mit vns redet auff dem wege / als er vns die Schrifft öffnet. 33 Vnd sie stunden auff zu der selbigen stunde / kereten wider gen Jerusalem / vnd funden die Eilffe versamlet / vnd die bey jnen waren / 34 welche sprachen / Der HErr ist warhafftig aufferstanden / vnd Simoni erschienen. 35 Vnd sie erzeleten jnen / was auff dem wege geschehen war / vnd wie er von jnen erkand were / an dem / da er das Brot brach. (Übersetzung M. Luther 1545)

 

 

Manch einem von uns mag es unangenehm sein, auf den eigenen Lebensweg zurückzublicken. Es ist da viel Halbfertiges, Irriges und Abgebrochenes, das so gar nicht zu unseren ursprünglichen Lebensplanungen passen will. Richtig unangenehm wird es, wenn der Blick auf andere Leute fällt, die glücklicher oder erfolgreicher gewesen sind als unsereiner. Die Erkenntnis, dass die Jahre verflossen sind und Vertanes nicht wieder aufgeholt werden kann, tut ein Übriges. Es ist ein Trauerspiel.

 

So etwa mag es den beiden Wanderern gehen, die nach dem Örtchen Emmaus unterwegs sind. Schon diese Route, von der Hauptstadt weg in des Nest am Wegesrand, ist ein Weg vom pulsierenden Leben in die Tristesse. Warum ist alles so gekommen?

 

Die beiden sind noch ganz unter dem Eindruck ihres jüngsten Scheiterns, das so schmerzhaft und schreckhaft alle Hoffnung gänzlich erstickt hatte. Ihre Niedergeschlagenheit drückt sich vorzüglich in dem Wort aus, das sie dem Fremden, der sich zufällig als Wegbegleiter einstellt, entgegenhalten: "Wir aber dachten, Jesus von Nazareth würde Israel erlösen." Als Unerlöste sind sie, bitter zu sagen, ein weiteres Mal auf sich zurückgeworfen. Nur ihre Erinnerungen kreisen noch um ihn, wie das unter uns Menschen zu gehen pflegt, wenn wir in der Vergangenheit leben müssen, weil die Gegenwart öde erscheint und die Zukunft dunkel und ungewiss. Noch einmal: Warum ist es so gekommen?

 

Sie stehen allein und verlassen da. Mit vollem Recht stellen sie die Frage: Warum ist es alles so gekommen? Warum konnte es nicht glücklicher ausgehen? Kann uns bitteschön jemand erklären, was das soll? Wenn wir verstehen könnten, warum das so und so kommen musste, würden wir es annehmen und uns damit abfinden. Aber das Unerklärliche ist das Problem.

 

Das Unerklärliche ist dem Glauben zum Problem geworden. Statt dessen "intelligo ut credam" - "ich verstehe, um zu glauben". Ja, das ist etwas anderes. Diese Überzeugung ist seit 1000 Jahren in der Welt. Sie widerlegt sich regelmäßig selbst, kommt aber immer wieder zu neuen Ehren. Es ist etwas Verführerisches um die Annahme, dass man aus Verstehen zum Glauben gelangen könnte. Als würde man den Glauben herbeizwingen durch kluge Deduktionen und Schlüsse.

 

Die Geschichte von den Emmausjüngern ist ein Beitrag zu dieser Frage. Interessanterweise sind die beiden durchaus im Bild über die Geschehnisse in Jerusalem. Das sagen sie dem Fremden auch, der sich ihnen zugesellt. "Auch haben uns einige Frauen verwirrt, die sagen, er sei auferstanden", erzählen sie ihm.  Aber ihr Vernunftrealismus ist doch stärker als ihr Glaube an diese Botschaft der Frauen. Es hilft ihnen nichts. 

 

Sie wissen, was alle vernünftigen Menschen wissen, nämlich dass ein Mensch, der gestorben ist, tot ist und selbstverständlich tot bleibt. Das lehrt die Lebenserfahrung und die hohe Wissenschaft. Sie wissen auch, dass vergangene Zeit nicht zurückzugewinnen ist. Und haben die beiden, in Anbetracht des ehernen Gesetzs des Analogieschlusses aller Geschehnisse auf diesem Erdball, etwa unrecht? Nein, das haben sie nicht.

 

Erkennen wir uns wieder in ihnen? Gibt es nicht Zeiten, in denen wir uns desillusioniert und kleingläubig durchs Leben schlagen mit dem Dämon der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit im Nacken?

 

Die Emmausjünger denken von der Welt her und urteilen nach den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt. Wenn man das tut, wird man stets bis zu dem Punkt kommen, dass alles auf Vergänglichkeit und Tod gestellt ist. Mit den Mitteln der Welt kommt man über sie nicht hinaus. Man bleibt schlicht in ihr hängen. Man kann das tun. Aber man begibt sich damit von vornherein des Evangeliums vom Leben. Und das ist fatal.

 

Man müsste von Christus her denken können. Man müsste das Leben vom Lebendigen, vom Auferstandenen, vom Sieger über Tod und Teufel her begreifen können, um nicht immer wieder in die Falle der Verzweiflung zu tappen. Man müsste mit ihm unterwegs sein, mit ihm auf dem Wege reden, sich von seinem Wort entflammen lassen, ihn zum Mahl bitten und ihn im Brechen des Brotes als Herrn und Heiland erkennen können. Dann wäre die Zukunft gewonnen und das Vergangene offenbarte einen tiefen, heiligen Sinn.

 

Wie meine ich das? Die zwei Emmausleute sind wie Blinde auf ihrem Wege. Es ist nicht so, dass sie Christus nicht bei sich hätten. Im Gegenteil. In Wahrheit ist er ihnen ja die ganze Zeit nahe, spricht mit ihnen und sitzt mit ihnen zu Tisch. Aber sie haben ihn nicht, da sie ihn nicht erkennen. Erst in dem Moment, in dem sie ihn nicht mehr haben, weil er vor ihren Augen, verschwindet, haben sie ihn wirklich. Da schlagen sie sich an die Stirne und erkennen im Rückblick.

 

Liebe Schwestern und Brüder, ist da etwas dran, dass wir den Sinn der Wendungen unseres Lebens erst im Rückblick erkennen? Haben uns vor allem die schweren Zeiten nicht erst zu dem gemacht, was wir sind? Sind sie in diesem Sinne nicht nötig gewesen, weil sie uns unsere ganz einzigartige Prägung verliehen haben? Was wäre aus uns ohne sie geworden?

 

Wenn das stimmt, werde ich mich mit meinem Leben versöhnen. Christus ist die ganze Zeit an meiner Seite gewesen. Dass ich ihn oft erst im Rückblick wahrnehmen kann, bedeutete doch nicht, dass er nicht da war.

 

Die Emmausjünger hatten auf dem Wege gelernt, nicht von der Welt, sondern von Christus her zu denken. Sie haben im Rückblick Gewissheit darüber gewonnen, dass alles so geschehen musste. Da haben sie ihr Leben verstanden. Es war also doch nicht alles sinnlos! Im Gegenteil.

 

Da ist eine neue Kraft in sie gefahren, so dass sie sich noch zu derselben Stunde aufmachten und ins Leben zurückkehrten. Lasst uns Gott bitten, es ihnen gleich tun zu dürfen.

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019