Predigt zur Gründung des Kirchspiels am 2. Sonntag nach dem Christfest, den 3.1.2021, Lk 2,48-49

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Lk 2,48-49

 

Tempus fugit, Christus venit, die Zeit flieht, Christus kommt. Dieses Wort, das ich kürzlich hörte, möchte ich an den Anfang des Jahres stellen. Es kann ein Leitwort für mich persönlich sein, aber auch für unsere Gemeinde das Kirchspiel Dresden-Süd, das mit diesem neuen Jahr geboren worden ist. Nun ist es da, noch etwas schwach. Aber es wird schon werden. Das kleine Leitwort betont die Bewegung. Beide bewegen sich: die Zeit und Christus. Beide haben die Eigenart, dass sie sich nicht festketten lassen. Es bleibt ein dynamisches Geschehen mit beiden, der Zeit und Christus. Das ist ja das Problem; das ist aber zugleich auch das Schöne. Soviel vorweg.

 

Wie können wir die Erzählung vom Zwölfjährigen Jesus im Tempel in unsere Gegenwart ziehen? Wir lesen die Heilige Schrift ja immer mit der Absicht, dass sie uns heute etwas zu sagen hat. Das Gestern haben wir nicht, das Morgen haben wir auch nicht. Wir haben immer nur die jeweilige Gegenwart. Hier gilt es.

 

Es ist schon viele Jahre her, da hörte ich ein Interview im Radio. Es wurde mit einem Professor der Kunstgeschichte geführt. Ich weiß nicht mehr, worum es in der Hauptsache ging. Ich erinnere mich nur noch an eine Äußerung, die im Laufe des Interviews fiel. Der Professor sagte, dass er, bevor er irgendetwas Fachliches mit den jungen Leuten behandeln könne, er erst einmal Bibelkunde betreiben müsse. Denn sie wüssten einfach gar nichts mehr von Jesus Christus, seinem Herkommen, seinem Glauben und seinem Geschick. Jesus ist ihnen verloren gegangen. Wem aber Jesus verloren gegangen ist, der kann von der Kunst so gut wie nichts begreifen. Wir können das auf alle Felder des abendländischen Geistes ausdehnen: Musik, Literatur, Philosophie usw.

 

So könnten wir unser Leitwort vom Anfang glatt umkehren: Tempus venit, Christus fugit, d. h. die Zeit kommt, Christus flieht. Jesus geht verloren. Es ist schlimm , wenn er verloren geht. Denn dann ist ja das Heiland der Welt abhanden gekommen und Gott gesichtslos geworden. Viele Menschen haben sich damit bereits abgefunden.

 

Das Evangelium, das ich gerade las, berichtet davon, wie Jesus als 12-Jähriger verloren ging. Es ist klar, dass das für Maria und Joseph ein Trauma gewesen sein muss. Sie haben es erst spät bemerkt. Sie dachten immer, dass er noch irgendwo sein müsse, weiter hinten oder weiter vorn, bei Bekannten oder Verwandten oder sonst wo. Und sie meinten, dass das auch nicht allzu schlimm wäre, dass er ihnen aus dem Gesichtsfeld gekommen sei.

 

Das ist das erste Stadium des Verlustes, zu meinen, irgendwo wird er schon noch sein und man kann ihn doch nicht ständig um sich haben. Das ist ein Leben in der Schwebe, noch ein bisschen an Gott interessiert, aber nicht zu sehr. Es genügt, dass es die Kirche noch gibt. Kirchturm und Kirchengebäude wollen wir schon behalten - aber hingehen, hören, mitsingen, mitbeten und mitglauben? Wir wollen uns vor dieser distanzierten Christlichkeit hüten. Wer weiß, über's Jahr vielleicht platzt die Kirche sonntags aus den Nähten. Statt hundert Leute in einem Gottesdienst sind es alle 2400 Gläubige, die eigentlich zu uns gehören. Und im Kirchspiel erst und seinen fünf Gemeinden; wir sind weit über 8000 Leute. Nun, ich fürchte, Christus ist den meisten schon so weit aus dem Blick gekommen. Sie wissen ihn zwar da vorn oder da hinten irgendwo, ansonsten aber meinen sie, es wäre nicht gar so wichtig, ihm heute ganz unmittelbar zu begegnen.

 

Und ehe man es sich versieht, ist Jesus dann eben einfach weg. Das kommt vor. Ja, sagen sie, selbstverständlich kann man auch ohne den Glauben an ihn und seine Kirche leben. Doch halt! Es wird dann eben ein Leben ohne Gott sein, ohne die Zwiesprache mit dem Lebendigen, ohne Vergebung, ohne den immer wieder erneuerten Segen, der von seiner Gegenwart ausgeht und ohne die befreiende Gewissheit, dass er uns leitet und führt durch gute und durch schlechte Zeiten, auch ohne Wunder übrigens, die uns staunen lassen. Das alles ist doch aber unverzichtbar!

 

Maria und Joseph merken nach Tagesfrist, dass Jesus fehlt. Sie tun das, was alle Eltern mit unruhigem Herzen tun. Sie kehren um. Sie suchen ihn natürlich. Sie irren in den engen, damals schon tausendjährigen Gassen von Jerusalem umher. Ist er auf dem Markt bei den Händlern oder in den halbverfallenen Vierteln der Armen oder zwischen den Villen der Reichen, ähnlich wie bei uns in Strehlen, zu finden? Nein, da überall ist er nicht.

 

Zuletzt gehen sie in den Tempel. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie am Ende in den Tempel gingen, weil sie dachten, dass sie ihn nie wieder finden würden. Sie gingen dort hin, um Gott ihr entsetzliches Unglück und ihren schmerzlichen Verlust zu klagen. "Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat." (Ps  121,1-2)

 

Wir wissen längst, wie es ausgeht. Dort finden sie ihn. Als sie schon dachten, er wäre für immer verloren, da finden sie ihn. Wir wollen aber nicht leichthin über die drei Tage hinwegspringen. Für Eltern, die ihr Kind suchen müssen, bedeuten drei Tage eine Ewigkeit. Die Verzweiflung wächst beständig. Nach dem ersten Tag sind sie noch guten Mutes: Morgen ist ein neuer Tag. Nach dem zweiten Tag beginnt der Zweifel zu nagen. Es bricht Panik bricht aus. Und nach dem dritten Tag sind sie völlig verstört, entmutigt und entsetzt. In diesem Augenblick geschieht das Wunder. Als sie nicht mehr dachten, ihn zu finden, ließ er sich finden.

 

Dramatisch ist der Moment der Begegnung geschildert. Auch literarisch ist es wunderbar gelöst. Es treffen Frage und Gegenfrage aufeinander. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? So fragen viele Zeitgenossen, warum, warum? Und er sprach zu ihnen: ... Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Auf die Frage der Mutter antwortet der Zwölfjährige mit einer Gegenfrage, voller Erstaunen und voller Überraschung, dass diese Selbstverständlichkeit nicht bekannt war. Ich bin bei Gott geborgen. Frage und Gegenfrage erzeugen Dynamik und Spannung. Christus stellt uns in Frage. Er stellt unsere Frage nach dem Warum? in Frage. Welche Antwort geben wir auf seine Gegenfrage?

 

Für uns und unsere Suche nach Jesus Christus möchte ich diese zwei Momente festhalten: Es gilt erstens, mit der Suche niemals aufzuhören, auch wenn der Zweifel und die Anfechtung kommen. Es gibt Menschen, die meinen, Christus wäre endgültig verloren. Ihnen sagen wir: Nein, gib nicht auf. Es ist ein neues Jahr der Christussuche angebrochen. Er wird sich finden lassen!

 

Und zweitens: Wo ist er zu finden? Bei Gott, beim Vater, beim Schöpfer aller Dinge, bei dem Gott, von dem es heißt, er sei die Liebe, von dem der Sohn sagt, er und der Vater seien eins. Wer Gott sucht, wird Christus finden. Und wer Christus findet, hat Gott ins Herz geschaut.

 

Tempus fugit, Christus venit. So herum ist's richtig. Nicht vergessen! Zwar können weder Zeit noch Christus ein für alle mal festgebunden werden. Die Zeit verrinnt unablässig. Und Christus kann nicht wie eine Nano-Chip in unser Hirn imputiert werden, auf dass wir ihn stets zu Handen hätten. Es bleibt die Spannung von Frage und Gegenfrage, von Suchen und Finden. Das ist ja gerade das Schöne im Neuen Jahr.

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019