Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, den 18. Oktober 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." Eph 4,22-23

 

Ich erinnere mich an eine Unterhaltung von Konfirmandinnen, die ich zufällig am Frühstückstisch mitbekam. Es ging um die Kleidung für's große Fest. Ich gebe es zu, das war sehr unterhaltsam. Schwarz oder blau oder dunkelrot? Knielang oder kürzer? Ärmel- oder trägerlos? Stola oder Bolero oder gar nichts davon? Oh Himmel, welche Schuhe? Ist das over- oder underdressed? Lieber over- als underdressed, oder umgekehrt?

 

Overdressed oder underdressed? Das ist eine hochwichtige Frage. Mit fortschreitendem Alter wird sie vielleicht etwas unwichtiger. Doch man täusche sich nicht. Sie bleibt noch immer wichtig genug, wichtiger als einem lieb ist. Für viele Leute stellt sie sich jeden Morgen neu, vielleicht auch noch öfter, mittags und nachmittags und abends sowieso. Wir reden noch nicht davon, dass man mit einem auffälligem Make Up oder einer exzentrischen Frisur auch noch over- oder understyled sein kann. Ja, das Leben ist voller Tücken und gespickt mit Peinlichkeiten. Das Leben ist grausam!

 

Die Vielfalt der Farben, die man sich erwählt, betrifft nicht nur die Gewänder. Sie mögen als Beispiele stehen für alle möglichen und denkbaren Farbenspiele. Ich meine auch die politischen. Es ist immer wieder dasselbe:

 

Der Mensch ist fremd in dieser Welt. Er versucht die ganze Zeit, sich in sie einzupassen. Was muss ich tun, um nicht unangenehm aufzufallen durch ein Zuviel oder ein Zuwenig? Das ist äußerst anstrengend. Es ist sogar ein lebenslimitierender Faktor.

 

Was ist der Grund hinter dieser Maskerade? Ich vermute, es ist das Gefühl von Vereinzelung, das Unwohlsein hervorruft. Vereinzelung schlägt in Verlorenheit um. Das macht uns Angst. Es ist die Angst, von den Menschen nicht so gesehen zu werden, wie man gern gesehen werden möchte. Wir geben das nicht gerne zu. Aber wir erscheinen uns selbst fremd, wenn wir uns so geben müssen.

 

Gibt es etwas oder jemanden, der diese Entfremdung aufhebt? In der Sehnsucht nach einem erfüllten, gelingenden Leben, in dem der Mensch seinen guten Platz und Sinn und Zweck finden will, bietet sich ihm manches Versprechen, manche Vision, manche Aktion dar. Man bedeutet ihm, dass er ja nur zuzugreifen braucht, sich dieser oder jener Bewegung anschließen müsse, um seinen Beitrag dazu zu leisten, dass alles besser und am Ende gut wird. Aber schon nach kurzer Zeit wird deutlich, dass es nur wieder der Griff nach einem neuen, bunten Kleid war, das der Oberfläche, dem Schein und dem Vorläufigen galt. An der grundsätzlichen Situation hat sich nichts geändert.

 

Hier wird unser kurzes Wort aus dem Epheserbrief interessant. Es redet im Bild von einem Kleiderwechsel. "Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit." Dieses Wort zielt nicht auf den äußeren, sondern auf den inwendigen Menschen.

 

Wer den Geist Christi im Herzen trägt, der ist frei von den trügerischen Geistern dieser Welt. Den "neuen Menschen anziehen" bedeutet gerade nicht, ein weiteres Kleid aus dem Schrank herauszunehmen und überzustreifen. Das bedeckte ja wieder nur das Äußere. Es geht doch um die Erneuerung des Inneren. Wie kann das gelingen?

 

Man könnte meinen, es bedürfe einer großen Willensanstrengung, um das zu bewerkstelligen. Dann wäre das Christentum eine moralische Veranstaltung, das  Handlungsanweisungen zu guten Taten gibt. Es gliche einem Katalog von Gesetzlichkeiten, die tunlichst zu erfüllen wären. Das wäre ganz praktisch für Menschen, die die Knechtschaft mehr lieben als die Freiheit und die Bevormundung mehr als die Mündigkeit, da man ihnen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben. Aber das ist ein ganz schlimmes Treiben.

 

Denn Christus hat bekanntlich zur Freiheit befreit. Folglich handelt es sich beim christlichen Glauben keinesfalls um die Befolgung eines Regelkanons. Martin Luther hat Hervorragendes geleistet, um dieses gottlose Missverständnis zu beseitigen.

 

Die Erneuerung, von der die Rede ist, bringt die Freiheit der Kinder Gottes zur Geltung. Sie wirkt in der Tiefe, in "Geist und Sinn", wie es heißt. Die Erneuerung lebt als Geist Christi in all den Menschen, die sich von ihm gewinnen lassen und sagen: Gott will ich vertrauen, Christus will ich nachfolgen, sein Geist soll mich leiten! Zum dreieinigen Gott will ich gehören, aus ihm leben und mich seiner Führung anvertrauen! In diesem Moment zerfallen die alten Bindungen wie morsche Gewänder, Lumpen und Lappen. Ich mag sie nicht mehr tragen. Sie tun mir nicht gut.

 

Statt dessen: "Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit". Das ist sehr schön gesagt. Dieser neue Mensch kann nun endlich so sein, wie "Gott ihn geschaffen" hat, d. h. seiner Bestimmung entsprechen. Er hat zu sich gefunden. Er hat die Entfremdung hinter sich gelassen. Er muss sich nicht verbiegen unter irgendein Diktat. Wer den neuen Menschen angezogen hat, der recht eigentlich der ursprüngliche, schöpfungsmäßige ist, lebt nicht aus der Bindung an andere Menschen, ängstlich danach schielend, wie er sich möglichst unauffällig einpasst, damit er ja nicht aus dem Rahmen fällt und hübsch der geltenden Mode entspricht. Er braucht sich nicht zu richten nach den Vorgaben dieser oder jener Couleur. Nein, nein und nochmals nein. Dergleichen fällt ihm nimmer ein. Er steht über dem knechtenden Hickhack des Alltags, weil er sich auf die alten Spielchen einfach nicht mehr einlässt. Er ist frei.

 

Ich möchte schließen mit einem kleinen literarischen Fundstück, das ich sehr hübsch finde. Johann Peter Hebel erzählt in seinem "Schatzkästlein" von einem kleinen "Farbenspiel":

 

"In einer Schule saßen zwei Schüler, von denen hieß der eine Schwarz, der andere Weiß, wie es sich treffen kann; der Schullehrer aber für sich hatte den Namen Rot. Geht eines Tages der Schüler Schwarz zu einem andern Kameraden und sagt zu ihm: "Du, Jakob", sagt er, "der Weiß hat dich bei dem Schulherrn verleumdet." Geht der Schüler zu dem Schulherrn und sagt: "Ich höre, der Weiß habe mich bei Euch schwarz gemacht und ich verlange eine Untersuchung. Ihr seid mir ohnehin nicht grün, Herr Rot!" Darob lächelte der Schulherr und sagte: "Sei ruhig, mein Sohn! Es hat dich niemand verklagt, der Schwarz hat dir nur etwas weisgemacht."

 

Liebe Schwestern und Brüder, lasst euch nichts weismachen!

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019