Predigt am Erntedanktag, den 4. Oktober 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?" Mt 20,15

 

Gestern Nachmittag wanderte ich mit meiner Frau etwas in der Sächsischen Schweiz herum. Es war doch ein so ein schöner, milder Spätsommertag! Von Wehlen aus sind wir am Bärenstein vorbei nach Thürmsdorf  geschlendert. Dort stießen wir am Schloss auf eine kleine Schokolaterie, in der wir uns wegen des Jahrestages der Wiedervereinigung jeder eine einzige, feine Praline spendierten. Sie hat köstlich geschmeckt. Sodann wendeten wir uns nach Königstein, um am Ufer der Elbe entlang über Rathen nach Wehlen zurückzukehren. Am Wegesrand, gleich hinter Königstein, finden sich in regelmäßigen Abständen kleine Täfelchen. Sie beschreiben alle möglichen heimischen Vogelarten. Oh Schreck, muss man über 50 Jahre alt werden, um zu bemerken, dass man sich kaum je die Mühe gemacht hat, diese hübschen Geschöpfe voneinander zu unterscheiden? Wir hatten große Freude an den Beschreibungen. Besonders gut gefiel mir das Rotkehlchen, hauptsächlich wegen seines Rufes. Er lautet "Schnick, Schnick, Schnick" und "Schnickerekick".

 

"Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?" So fragt der Weinbergbesitzer diejenigen unter den Tagelöhnern, die den ganzen Tag gearbeitet hatten und nun darüber murren, dass sie nur genauso viel Lohn empfangen wie die Spätgekommenen. Christus erzählt dies Gleichnis, um das göttliche Himmelreich auszumalen. Es gilt denen, die immer meinen, sie kämen zu kurz.

 

Viele Menschen meinen, sie kämen zu kurz. Sie ärgern sich die ganze Zeit darüber. Es ist gar nicht so, dass es ihnen richtig schlecht ginge. Nur eben der Vergleich, den sie vorzugsweise nach oben, nicht nach unten hin üben, schafft ihnen jene Verbitterung. Andere Leute haben immer mehr Erfolg, Glück oder Besitztümer als sie - und das ist ungerecht. "Siehst du darum so scheel?"

 

Tun wir nicht so, als kennten wir diesen Ärger nicht sehr gut. Das ist es ja gerade, dass ein solcher Gedanke wie von selbst Besitz von uns ergreift, halb unbewusst. Plötzlich nagt er wieder an unserem Dasein und vergällt uns das Leben. Was passiert in solchen Momenten, wenn diese fixe Idee des Zu-kurz-gekommen-Seins in uns wieder einmal mächtig wird? Er verdirbt das Leben. Der Mensch springt dann aus der Gegenwart des verkündigten Himmelreiches, in dem sich doch nach Gottes Verheißung für jeden genügend findet, heraus, um in seiner vergeigten Vergangenheit oder trostlosen Zukunft herumzustochern. Ach, auf all dem liegt kein Segen. Willst du unglücklich werden, fahre damit fort!

 

Wie aber kann man glücklich leben? Ein befreundeter Arzt, den ich kürzlich traf, erzählte mir, dass die kluge Wissenschaft hierzu geforscht und eine Antwort gefunden habe. Wie lautet sie? Der Mensch solle lernen, aus der Dankbarkeit zu leben. Denn es fände sich ein Übermaß von dem, wofür er Grund an Anlass zu Dank hätte. So könne man glücklich und steinalt werden.

 

Aha, das ist fein, dass uns die medizinische Wissenschaft an etwas erinnert, das wir manchmal vergessen. "Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich" - dazu fordert die Heilige Schrift seit je auf. Dass wir es neu hören könnten. Bei Betrachtung des Lebens mit den Augen des christlichen Glaubens springen die Wohl- und Heilstaten Gottes auch ins Auge, die kleinen, die großen und die allergrößte. Dass sich Gott selbst schenkt, das ist das Größte, das sich denken lässt. Als Gott entschieden hatte, in Zeit und Geschichte Mensch zu werden, sich in Christus der geschundenen, betrogenen und verlogenen Kreatur zuzuwenden, in sie einzugehen und Teil von ihr zu werden, da war das Wunder von Heil und Heilung geschehen. Dass wir das erkennen könnten.

 

Dann ginge uns das Herz über vor lauter Dankbarkeit. Dann wären die Sorgen wie weggeblasen. Dann lebten wir frei vom scheelen Blick. Der trifft ja nicht nur den anderen, sondern auch uns selbst. Im Grunde denken wir von uns selbst gering, wenn wir scheel drein sehen. Wer so blickt, steckt in der Sackgasse. Er blickt geknickt zu Boden und jammert elendiglich vor sich hin. Nein, Christus spricht dagegen: "Seht die Vögel unter dem Himmel, ... euer himmlischer Vater ernährt sie doch". Das ist ein ganz anderer Blick auf das Dasein. Kopf hoch! Schöpfe Kraft und lass dich dahin führen, wo Gott dich haben will. 

 

Also, sollte uns die überaus unangenehme Versuchung, nicht aus der Dankbarkeit leben zu wollen, wieder einmal anfliegen, gedenkt des Rotkehlchens und seines hübschen, frechen Rufes. Mit ihm lässt sich der Gedanke des Zu-kurz-gekommen-Seins verscheuchen: "Schnick, Schnick, Schnick" und "Schnickerekick".

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019