Gedanken zur Tageslosung am Montag, den 6. Juli 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretungen von uns sein. " Ps 103,12

 

Was ist eine Übertretung? Das habe ich vor einigen Jahren im Urlaub in England buchstäblich gelernt.

 

Ich durfte das kleine Städtchen namens Deal besuchen, direkt am "Kanal", unweit der weißen Klippen von Dover gelegen. Wir hatten ein kleines Reihenhäuschen in der Altstadt von Deal ganz für uns. Besonders gern erinnere ich mich an einige Gespräche mit dem Hausbesitzer und Vermieter. Er hieß Alan, wohnte in der Nachbarschaft und war ein gemütlicher Rentner. Wenn er Langeweile hatte, kam er etwas zum Plaudern vorbei.

 

Allerdings betrat er unsere Ferienwohnung nicht, obwohl ich ihn hineinbat. Er blieb unter einem Vorwand immer draußen auf der Straße stehen. Dort erzählten wir. Unser Häuschen lag direkt am Marktplatz, auf dem es an jedem Samstag hoch her ging. Oh, sagte er, er pflege alle deutschen Touristen darauf aufmerksam zu machen, dass man insbesondere im Gedränge eines englischen Wochenmarktes etwas Wichtiges beachten müsse, nämlich wenn man in der Schlange stehe. Es sei überaus unhöflich, dem Vordermann zu nahe zu kommen. Der Engländer achte darauf, dass es einen Raum von einer Armlänge vor ihm gäbe, der ihm allein gehöre. Bei aller sonstigen Zurückhaltung und Höflichkeit dulde nicht, dass den jemand übertritt. Dann würde er ungemütlich. Das ließe er sich nicht gefallen.

 

Selbstverständlich bummelte ich am nächst folgenden Samstag über den Marktplatz Ich hatte ein interessantes Mitbringsel entdeckt. Ich trat an den Verkaufsstand heran und hatte noch nicht einmal Zeit zu grüßen, als es neben mir zu schimpfen begann, ob ich keine Augen im Kopf hätte, wie ich dazu käme mich so dreist vorzudrängeln usw. Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich mich einer Übertretung schuldig gemacht hatte. Ich war, obwohl ich doch gut unterrichtet, genau in die Falle getappt, vor der Alan mich gewarnt hatte. Es standen da schon Leute an, um etwas zu kaufen. Ich hatte mich wirklich vorgedrängelt.

 

Übertretungen - das sind eigenmächtige Grenzüberschreitungen oder Verletzung von Hoheitsräumen, in denen der Mensch nichts zu suchen hat. Gott hat dem menschlichen Tun und Lassen Grenzen gesetzt. Dazu dienen etwa die Zehn Gebote oder das "Doppelgebot" Jesu. Es ist nicht so, dass der Mensch sie nicht kennen könnte. Er kennt sie sogar sehr gut. Hielte er sie, gelänge sein Leben. Aber er achtet sie nicht, teils versehentlich, teils auch mit Vorsatz. Folglich verfehlt er sein Leben. Das ist die Tragik des Menschen.

 

Mit jedem Tag, der vergeht, verstrickt er sich tiefer, wenn nicht ein Wunder geschieht. Gott lässt das Wunder geschehen. Er bringt wieder in Ordnung, was wir verzapfen.

 

Vertrauen wir Gott, dass er das kann und weiter tut? Lassen wir uns zurückholen in ein neues Leben, nach dem wir uns doch so sehnen? Im Glauben werden unsere mannigfachen Übertretungen unwichtig. Sie rücken in eine weite Ferne, ferner als der Horizont des Ostens von dem des Westens, ferner als Morgen vom Abend ist. So lauten die Worte.

 

Es geht in unserem Vers um die Verheißung eines neuen Morgens für die, die meinen, eher im Abend, d. h. in hereinbrechender Dunkelheit zu leben. Es ist wichtig, auf die Reihenfolge zu achten. Verheißen ist der lichte Morgen, nicht der düstere Abend. Zwar sind wir im Abendland zu Hause, aber wir gehören doch in den Morgen. Die Vergebung Gottes, die wir im Glauben erlangen, stellt auch uns in das Licht des neuen Tages.

 

Die Frische des Morgens und die Zukunft Gottes stehen als Verheißung über unserem Abendland. Und mitten in der allgegenwärtigen Destruktion heißt es: "Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden." Röm 5,20

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019