Gedanken zur Tageslosung am Sonnabend, den 27. Juni 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Gott, gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben und dir zum Erbteil erlöst hast." Ps 74,2

 

"Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!" So lautet das ablehnende Urteil über die Christen von Friedrich Nietzsche. (Also sprach Zarathustra, 2. Teil, Von den Priestern)

 

Ganz schön starker Tobak. Hat er Recht? Haben wir vergessen, dass wir erlöst sind und dass man uns das eigentlich auch anmerken sollte?

 

Dass Gott den Menschen "erlöst", indem er Christus, den "Erlöser", sandte, ist für unser christliches Selbstverständnis doch ganz selbstverständlich. Wir verbinden damit die Idee einer Abhängigkeit, Fesselung oder Knechtung, die wir selbst nicht lösen könnten. Summarisch lassen sich die Mächte "Sünd', Teufel, Tod und Hölle" benennen, von denen der Gläubige "erlöst" wird.

 

Es ist interessant, dass "erlöst werden" (g`l), "Erlösung" (ge`ulla) und der "Erlöser" (go`el; alles mit der gleichen Wortwurzel g`l) vom alttestamentlichen Sprachgebrauch her eine besondere Farbe gewinnen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Wortwurzel unter den vielen semitischen Sprachen nur im Hebräischen vorkommt. Die Verteilung unter den Büchern des Alten Testaments macht ein gehäuftes Vorkommen in der gesetzlichen Literatur deutlich (Spitzenreiter ist das 3. Buch Mose). Die Gelehrten gehen davon aus, "dass das Verbum seine Heimat im rechtlichen Bereich hat, von wo aus es in die Terminologie des Kultes und in die religiös-theologische Sprache übernommen wurde." (Jenni/Westermann, TWAT, Bd. 1, Sp. 384)

 

Ein Blick in 3. Mose, 25 ist hilfreich: Hier geht es um das interessante Rechtsmittel der "Auslösung". Gemeint ist, dass in Israel ein Verwandter das Recht und die Pflicht hatte, einem in Not geratenen Angehörigen mit Geld beizuspringen. Musste also jemand, der in Schulden geraten war, sein Grundstück verkaufen, hatte der nächste Verwandte die Pflicht, es zu "lösen", d. h. zurückzukaufen, um den Grund und Boden in der Familie zu halten. Der "Erlöser" erwarb es nicht für sich, sondern gab es dem Verwandten zurück. Noch wichtiger war es, einen Verwandten zu "lösen", wenn dieser sich selbst hatte verkaufen müssen. Der "Erlöser" kaufte ihn aus der Schuldsklaverei los.

 

Zugrunde liegt diesem Rechtsbrauch die Vorstellung, dass eine lebensfeindliche Zerrüttung wieder geheilt werden müsse. Ziel war die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes. Hinter allem steht Gott: Da ihm das Land gehört und er es zum Lehen gegeben hat (3. Mose 25,23f.), darf es dauerhaft nicht verkauft werden; da jeder Israelit Nachkomme der aus Ägypten Befreiten ist, soll er nicht dauerhaft Sklave sein müssen (3. Mose 25,42).

 

Man sieht, wie sich aus diesem weltlichen Gebrauch des "Erlösers" der religiöse ganz wie von selbst ergibt. Wenn Gott als "Erlöser" auftritt, dann vor allem als Beschützer und Bewahrer der Schwachen gegen einen übermächtigen Gegner.

 

Das geht bis an die Grenzen der Absurdität. Der geschlagene Hiob kann Gott seinen "Erlöser" nennen, weil nur Gott als allerletzter Wahrer seines Rechtes übrig bleibt (Hi 19,25). Obwohl Gott selbst ihn seiner Rechte beraubt hat (Hi 19,7ff), kann es doch auch nur Gott sein, bei dem er Zuflucht findet. Denn der Gläubige wird an ihm nicht irre, sondern verlässt sich auf Gottes wahres, auf Rettung bedachtes Wesen. Er glaubt, verrückt zu sagen, gegen Gott an Gott.

 

Solch ein Glaube ist eine Antwort. Worauf? Darauf, dass Gott den Menschen gezeigt hat, dass sie ihm nicht egal sind. Es ist Liebe im Spiel. Die ringt um das Gegenüber. Sie gibt alles hin. Sie schenkt das Leben hin, damit das geliebte Gegenüber lebe.  

 

"Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet." 2. Kor 8,9

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019