Gedanken zur Tageslosung am Donnerstag, den 25. Juni 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Ich, der HERR, bin dein Heiland, und ich, der Mächtige, dein Erlöser." Jes 60,16

 

Das Wort "Ichheit", also die Substantivierung des Personalpronomens "ich", taucht meines Wissens zum ersten Mal im 14. Jh. auf. Es ist eine, wie ich finde, geniale Wortschöpfung. Es wird so gut wie nie gebraucht. Es ist nicht in den Sprachgebrauch der Gegenwart eingegangen. Hat das einen Grund?

 

Der Name des Erfinders des abstrakten Begriffs "Ichheit" ist nicht überliefert. Gedruckt taucht er erstmals in der so genannten "Theologia deutsch" auf.

 

Was ist das für ein Büchlein? Auch das ist sehr interessant. Denn es handelt sich um die erste Veröffentlichung Martin Luthers überhaupt, erschienen im Dezember 1516. Luther hat diesen Text so sehr geliebt, dass er ihn sogar mehrfach herausgegeben hat. Sein vollständiger Titel lautet " Eyn geystlich edles Buchleynn, // von rechter vnderscheyd // vnd vorstand. was der // alt vn(d) new mensche sey. Was Adams // vn(d) was gottis kind sey. vn(d) wie Ada(m) // ynn vns sterben vnnd Christus // ersteen sall".

 

Ich habe lange Zeit nicht gewusst, dass es gar nicht von Luther selbst geschrieben wurde. Es handelt sich vielmehr um ein unbekanntes Werk nach Art der Mystiket. In irgendeiner Klosterbibliothek hatte Luther erst das Fragment, später die gesamte Schrift gefunden. Der Autor ist bis heute nicht bekannt. Entweder wurde er vergessen oder er hat gar nicht gewollt, dass man seinen Namen kennen sollte. Heute gehen Forscher davon aus, dass es von einem Priester des Deutschen Ritterordens aus dem 14. Jh. in Frankfurt am Main stammt.

 

Einer der Grundgedanken ist, dass der Mensch an seiner "Selbheit und Ichheit" leidet, weil sie die Wurzel aller Sünde und Bosheit ist. Die Sucht der "Ichheit" verdrängt alles andere. Das "Ich" kennt nur sich selbst. Wir alle schweben in dieser Gefahr.  

 

Die "Ichheit" verdrängt nicht nur andere Menschen. Sie verdrängt auch Gott. Der der "Ichheit" verfallene Mensch kann sich selbst nicht heilen noch davon erlösen. Es ist der tiefe Grund des christlichen Glaubens, der im Hören des froh und frei machenden Evangeliums und den Gnadengaben der Sakramente von Taufe und Heiligem Mahl die menschliche "Ichheit" in die Schranken weist.

 

Die "Theologie deutsch" drückt es so aus: "Je mehr das Mein, Ich, Mir, Mich, das ist die Ichheit und Selbheit, in dem Menschen abnimmt, desto mehr nimmt Gottes Ich, das ist Gott selber, zu in dem Menschen."

 

Hier gibt es eine Entsprechung in dem Menschen. Das eine Ich muss weichen, damit das andere Ich kommen kann, damit es auch wirklich heißen kann: "Ich, der HERR, bin dein Heiland, und ich, der Mächtige, dein Erlöser" - aber nicht du dir selbst.

 

Der Gläubige weiß das. Genau darum muss er sich, sollte er rückfällig geworden sein, wieder erinnern und vergewissern. "Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?" Röm 8,35  Antwort: Niemand. Nicht einmal ich selbst!

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019