Predigt am Sonntag Septuagesimae, den 05.02.2023, Mt 8

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Sonntag Septuagesimae, den 05.02.2023, Mt 8

 

 9 VND da Jhesus von dannen gieng / sahe er einen Menschen am Zol sitzen / der hies Mattheus / vnd sprach zu jm / Folge mir. Vnd er stund auff vnd folgete jm. 10 Vnd es begab sich / da er zu tisch sass im Hause / Sihe / da kamen viel Zölner vnd Sünder / vnd sassen zu tische mit Jhesu vnd seinen Jüngern. 11 Da das die Phariseer sahen / sprachen sie zu seinen Jüngern / Warumb isset ewer Meister mit den Zölner vnd Sündern? 12 Da das Jhesus höret sprach er zu jnen / Die Starcken dürffen des Artztes nicht / Sondern die krancken. 13 Gehet aber hin / vnd lernet / was das sey Jch habe wolgefallen an Barmhertzigkeit / vnd nicht am Opffer. Jch bin komen die Sünder zur busse zu ruffen / vnd nicht die Fromen (Das ist / Alle Menschen / Denn niemand ist From / Rom. 3 Phariseer halten sich fur from / sinds aber nicht. Vnd j. Tim. j. spricht Paulus / Christus sey in die welt komen die Sünder selig zu machen. Osee. 6.) (Übersetzung und Glossen von Martin Luther 1545)

 

„Das ganze Unglück des Menschen kommt daher, dass er sich nicht ruhig in seinem Zimmer zu halten weiß.“ Dieser Ausspruch stammt aus der Feder des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal, der vor 400 Jahren geboren wurde. Der Satz hat es sogar schon auf Abreißkalender geschafft. So aus dem Zusammenhang gerissen bleibt er aber rätselhaft und kaum verständlich. Dabei fällt er im Zusammenhang eines scharfen Gedankenganges.

 

Pascal beobachtet nämlich, dass der Mensch sein Leben wie unter einem düstern Zwang in hastiger Unruhe zubringt. Er lebt wie unter einem Fluch, zu schaffen und zu wirken, als liefe er vor etwas davon. Dafür ist ihm jede Zerstreuung und Ablenkung recht, sei sie auch noch so lächerlich oder schädlich. Er sucht hektisch das Leben zu gewinnen - und verliert es über eben dieser Suche. Schließlich wird er an Leib und Seele krank und sehr unglücklich.

 

Wovor flieht der Mensch ins Unglück? Die überraschende Antwort des Pascal lautet: Er flieht vor der Angst der Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis, die ihm zeigte, dass er hilflos, begrenzt, schwach, orientierungslos und eigensüchtig ist. Angesichts dieser Einsicht verzagen die Menschen, sagt Pascal. Aber sie können sich das nicht eingestehen. „Das zwingt sie nach außen zu schweifen und den Versuch zu machen, in der Anhänglichkeit an äußere Dinge die Erinnerung ihres wahren Zustandes zu verlieren. Ihre Freude besteht in dieser Vergessenheit; und sie elend zu machen, genügt es, sie zu verpflichten, sich zu betrachten und mit sich zu sein.

 

Hat Pascal recht mit solchen Gedanken? Fest steht, dass Worte wie „Spaß-“, „Erlebnis-“ und „Konsumgesellschaft“ ihre traurige Berechtigung haben. Es handelt sich um moderne Wortschöpfungen, für sehr alte menschliche Prägungen. Ganz selten, in kurzen Momenten der Besinnung, dämmert es manch einem von uns, wie hohl und öde das Getriebe der Oberfläche in Wahrheit ist.

 

Solche Momente sind gefährlich, da sie offenbaren, wie sehr das Leben von Sinnlosigkeit bedroht ist. Ich kann ganz gut verstehen, dass man diese Erkenntnis, wenn irgend möglich, flieht. In einem schreckhaften Reflex hastet der Mensch zum nächsten Event und irrt so scheinbar lustig weiter durchs Leben. In einem verborgenen Winkel seines Herzens aber weiß er, dass der beschrittene Weg ihn nicht zum Ziele führen kann.

 

Als solch einen Menschen stelle ich mir den Zöllner Matthäus vor. Man mag einwenden, dass er ein Mann von Erfolg und Einfluss war. Zwar ist bekannt, dass der Beruf des Zöllners unter frommen, ernsten Juden nicht hoch im Kurs stand, sondern immer als Handlangerei für die römische Fremdherrschaft und diebische Bereicherung am Volk stand. Andererseits aber war Matthäus einer, der seinen Beruf clever gewählt hatte, der die Gunst der Stunde ergriffen und seine Chance wahrgenommen hatte, ein ordentliches Einkommen und einigen Wohlstand anzuhäufen. Das galt damals und gilt heute als erstrebenswert. Kritiker machen sich des Neides verdächtig.

 

Aber ich glaube doch, dass Matthäus den schlichteren Zeitgenossen etwas voraus hatte. Möglicherweise hatte ihn schon eine Ahnung von der Leere seines Lebenswandels befallen. In den Augenblicken, da er auf sich selbst zurückgeworfen war, vielleicht als er eine Sekunde allein in seinem Zollbüro saß, mag ihm schreckhaft bewusst geworden sein, wie sinnlos sein Leben im Grunde ist.

 

Dort, in seinem Zollbüro, findet ihn Jesus von Nazareth sitzen, als er vorbei kommt. Wir haben gehört, dass er ihn anredet. Ob die überlieferten Worte das Gespräch in Gänze abbilden, oder nur die Essenz wiedergeben? Wir wissen es nicht. Ich halte es aber für möglich, dass es nur ein Satz gewesen war. Die gewinnende Vollmacht der Persönlichkeit Jesu riss diesen Mann förmlich aus seinem öden und schäbigen Dasein. "Folge mir!", sprach er zu ihm.

 

Jemandem folgen zu dürfen, der des Vertrauens würdig ist, das man ihm schenkt, muss herrlich sein. Es fehlte bis auf den heutigen Tag nie an Leuten, die sagten, "folge mir". Meistens, eigentlich immer war der Weg, auf den die Leute dann gebracht wurden, fragwürdig, irrig, manchmal gar verbrecherisch. Das tiefe Misstrauen, das uns befällt, wenn jemand sagt "folge mir", speist sich aus diesen ernüchternden Erfahrungen. Lieber nicht folgen!

 

Matthäus und die Apostel allesamt aber stehen für eine andere Erfahrung. Die interessiert uns besonders. Denn fände sich eine vertrauenswürdige Person, der zu folgen heilsam wäre, weil sie dem Leben die Richtung wiese, die zu Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit führte, dann bedeutete ein solches "Folgen" eine große Befreiung. Der Mensch müsste nicht mehr daran werkeln und scheitern, "seines eigenen Glückes Schmied" zu sein.

 

Der Weg des Apostels Matthäus bezeugt, dass der Ruf in die Nachfolge eine Befreiung gewesen ist. Nicht in dem Sinne aber, dass er dadurch der Welt der Zöllner und Sünder endlich entronnen wäre. Im Gegenteil; wir hören ja, dass Christus und die "Jünger", die er um sich scharte, die Gemeinschaft mit solchen Leuten ganz souverän und ohne schlechtes Gewissen, öffentlich und vor aller Augen suchten. Aber was für ein Unterschied! Der einstige Zöllner Matthäus begegnet diesen Leuten nun im Gefolge Jesu als Mensch unter Menschen, in Barmherzigkeit und Zuwendung und als Zeuge der Befreiung, die er selbst an sich erfahren hat.

 

Wer sich von Christus in die Nachfolge rufen lässt, wird von der Last der Selbstsorge befreit. Er kann plötzlich barmherzig sein. Er wird zugleich Zeuge der Freiheit im Leben seiner Mitmenschen. Er muss auf dem Weg seines Lebens nicht ziellos umherirren, sondern gewinnt Richtung, Sinn und Ziel. Er lässt sich durch spitzige oder zynische Kritiker nicht abbringen davon, dem zu folgen, der Gottes Barmherzigkeit schenkt.

 

Bitten wir den dreieinigen Gott, dass er uns den Ruf in die Nachfolge Jesu hören lässt. Spricht er zu uns? Hören wir seinen Ruf? Wissen wir denn nicht im Grunde, "was gut ist und was der Herr von uns fordert"? (Mi 6,8)

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019