Predigt am Silverstertag 2022, Röm 8,31-39

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Silverstertag 2022, Röm 8,31-39

31 WAs wollen wir denn weiter sagen? Jst Gott fur vns / Wer mag wider vns sein? 32 Welcher auch seines eigen Sons nicht hat verschonet / Sondern hat jn fur vns alle da hin gegeben / Wie solt er vns mit jm nicht alles schencken?33 Wer wil die ausserweleten Gottes beschüldigen? Gott ist hie / der da gerecht machet. 34Wer wil verdamnen? Christus ist hie / der gestorben ist / Ja viel mehr / der auch aufferwecket ist / welcher ist zur rechten Gottes / vnd vertrit vns. 35 WEr wil vns scheiden von der liebe Gottes? Trübsal oder angst? oder verfolgung? oder hunger? oder blösse? oder ferligkeit? oder schwert? 36 Wie geschrieben stehet / Vmb deinen willen werden wir getödtet den gantzen tag / Wir sind geachtet fur Schlachtschafe. 37 Aber in dem allen vberwinden wir weit / vmb des willen / der vns geliebet hat. 38 Denn ich bin gewis / Das weder Tod noch Leben / weder Engel noch Fürstenthum / noch gewalt / weder gegenwertiges noch zukünfftiges / 39 weder hohes noch tieffes noch keine andere Creatur / mag vns scheiden von der liebe Gottes / die in Christo Jhesu ist vnserm HErrn. (Psal. 44.) (Übersetzung Martin Luther 1545)

 

 

Vor Jahren hatte ich eine gewisse Frau Koch zu beerdigen. Sie war eine Russlanddeutsche. Als ich die Worte des Apostels Paulus las, trat ihr Bild vor mein inneres Auge. Sie war steinalt geworden und hatte ein furchtbares Leben hinter sich. Als junge Frau war sie mit ihrer Familie in den stalinistischen Terror hineingeraten. Der Vater wurde vor ihren Augen erschossen, die Familie umgesiedelt von der Wolga in die Weiten des russischen Ostens; dort herrschten Arbeitslager, Hunger und Armut. Einige Geschwister sind verhungert, andere erfroren, auch vor ihren Augen. In den 1990er Jahren war sie und ihre ganze Familie nach Deutschland zurückgekehrt. Seither bewohnte sie eine kleine, bescheidene Wohnung in einem hässlichen Neubaublock. Sie war sehr glücklich, ihr Leben in Frieden beenden zu dürfen. Ein Fenster ging ins Grüne hinaus. Dort saß sie Tag für Tag und sang stundenlang aus einem alten Gesangbuch. Das war ihre liebste Beschäftigung.

 

Nach ihrem Tod traf ich ihre Tochter und ihre Enkelin. Sie erzählten mir davon und dass die Mutter ihre Lieblingslieder jeweils mit einem Lesezeichen markiert habe. Ich frage, ob ich das Gesangbuch einmal sehen dürfe. Sie zeigten mir ein völlig zerlesenes, großformatiges, in schwarze Pappe gebundenes Buch, das über tausend Liedtexte enthielt. Es stammte vom Ende des 19. Jh. Wie staunte ich, dass es über und über mit hunderten verschiedenfarbigen Lesezeichen geradezu übersät war. Die alte Frau Koch hatte offenbar massenhaft Lieblingslieder gehabt. Ganz offensichtlich war über die Katastrophen ihres Lebens ihr Glaube immer nur noch stärker geworden. Dieses Gesangbuch war der Beweis dafür.

 

Wie erschrak ich, als mir im Laufe des Gesprächs klar wurde, dass die Tochter zwar "noch in der Kirche" sei, wie sie sich ausdrückte, nicht aber die Enkelin. Sie war nicht mehr getauft worden und besitzt gar keine Bindung zum christlichen Glauben. Ich weiß nicht, wie so etwas geschehen kann. Scheinbar hat sich binnen zweier Generationen unter dem Einfluss der sog. "westlichen Welt" die einstige Sinnmitte des Daseins verloren. Als würde in überstürzter Eile nachgeholt werden müsse, was in der sog. "westlichen Welt" binnen zweier Jahrhunderte geschehen ist. 

 

Als der Apostel Paulus an die Römer schrieb, schrieb er an Menschen, die wankelmütig und unstet waren, gefährdet durch gottlose Einflüsse. Was das immer schon so? Wir leben in genau solch einer gottlosen Gegenwart. Dresden ist eine solch gottlose Stadt. Wir leben weitgehend in gottlosen Familien. Die einstige geistliche Sinnmitte des Daseins ist weithin verloren. Wie ist es dazu gekommen? Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Eine Sehnsucht nach dem Worte Gottes, nach Auslegung, Gebet, Gesang und Gotteslob ist nur bei einer verschwindend kleinen Zahl von Leuten vorhanden. Und unter denen gibt es auch nicht wenige, an deren Geist Enttäuschung und Unzufriedenheit nagen. Wo soll das hinführen?

 

Die Klage, dass die Leute der Kirche den Rücken wenden, nicht teilnehmen oder "aus diesem Verein austreten", wie sie sich ausdrücken, ist in kirchlichen Kreisen Allgemeingut geworden. Das hört man an jeder Ecke. Und in der Tat, es gibt tausend Gründe, aus der Kirche auszutreten. Ich kenne sie alle. Der eine sagt, die Pfarrer sind faul, der andere sie sind dumm. Der dritte beklagt eine langweilige Verkündigung. Der vierte unansehnliche Kirchenräume. Der fünfte das unerträgliche Liedgut der sechste Irrlehren aller Art, der siebente willige Vollstreckung staatlicher Vorgaben, der achte kleingeistige Politisierung der Verkündigung und der neute komische Verlautbarungen hochbegabter Kirchenfunktionäre. Es ließe sich leicht noch viel, viel mehr finden.

 

Dagegen gibt es nur einen einzigen Grund, der Kirche treu zu bleiben. Wie bitte, nur ein einziger Grund gegen tausend andere? Der muss Gewicht haben, wenn er bestehen soll!

 

Der Apostel Paulus gibt ihn an. Er lautet: Gott ist für uns, für dich und mich. Er hat sich nicht geschont und fein zurückgehalten. Er hat alles in die Waagschale geworfen - der Apostel sagt zweimal "alles" -, indem er sich in Jesus Christus den Menschen preisgab. Der ewige Gott wirft sich selbst in die Waagschale - und ich sollte tausend irdische, peinliche Ärgerlichkeiten für schwergewichtiger halten dürfen? Glauben heißt, ihm in diesem einen einzigen Grund, der wirklich zählt, recht zu geben - gegen tausend Gegengründe.

 

Das alte Jahr, nun ja, es war, wie es war. In wenigen Stunden wird es hinter uns liegen. Wir lassen es ziehen. Es war in vielerlei Hinsicht kein besonders gutes Jahr. Viel Häßliches ist hervorgetreten, manche Maske gefallen und wirkliche Garstigkeiten offenbar geworden. Nur das allerwenigste davon konnten wir beeinflussen oder ändern. In der Regel wurden wir nicht gefragt. Sondern wir hatten es - oft zu unserem hellen Entsetzen - hinzunehmen wie das Jahr davor und das davor auch. "Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll." (Ps. 90)

 

Aber nicht Ohnmacht und Tristesse leiten wir daraus ab, sondern die erneuerte Erkenntnis, dass uns das Wichtigste eben gerade nicht genommen wurde und niemals genommen werden wird, nämlich unser Herr und Gott, das Geheimnis der Welt, der Grund aller Gründe und Hort des Heiles. Ihm sind wir in allem, was geschehen ist, auch und vor allem im Unguten, auf der Spur gewesen, ob wir, voller Demut, ergründen möchten, wie er es gemeint hat und welche Rolle er uns zugedacht hat im Auf und Ab der Zeiten.

 

Das war der entscheidende Punkt, dass wir Gott an unserer Seite hatten. In ihm hatten wir alles. So lassen wir das alte Jahr ohne Groll, mit andächtigem Staunen und der erneuerten Hoffnung zu Ende gehen: Gott wandle es in Segen.

 

Im übrigen meine ich, dass die Kirche Christus zu verkündigen hat, Freiheit, Wahrheit und Leben.

 


 

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019