Predigt am Heiligen Abend 2022, Lk 1, 1-15

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Heiligen Abend 2022, Lk 1, 1-15

 

1 ES begab sich aber zu der zeit / Das ein Gebot von dem Keiser Augusto ausgieng / Das alle Welt geschetzt (Schetzen ist hie / das ein jglicher hat müssen ein Ort des gülden geben von jglichem Heubt.) würde. 2 Vnd diese Schatzung war die allererste / vnd geschach zur zeit / da Kyrenius Landpfleger in Syrien war. 3 Vnd jederman gieng / das er sich schetzen liesse / ein jglicher in seine Stad. 4 Da machet sich auff auch Joseph / aus Galilea / aus der stad Nazareth / in das Jüdischel and / zur stad Dauid / die da heisst Bethlehem / Darumb das er von dem Hause vnd geschlechte Dauid war / 5 Auff das er sich schetzen liesse mit Maria seinem vertraweten Weibe / die war schwanger. 6 Vnd als sie daselbst waren / kam die zeit / das sie geberen solte. 7 Vnd sie gebar jren ersten Son / vnd wickelt jn in Windeln / vnd leget jn in eine Krippen / Denn sie hatten sonst keinen raum in der Herberge. 8 VND es waren Hirten in der selbigen gegend auff dem felde / bey den Hürten / die hüteten des nachts jrer Herde. 9 Vnd sihe / des HERRN Engel trat zu jnen / vnd die Klarheit des HERRN leuchtet vmb sie / Vnd sie furchten sich seer. 10 Vnd der Engel sprach zu jnen. Fürchtet euch nicht / Sihe / Jch verkündige euch grosse Freude / die allem Volck widerfaren wird / 11 Denn Euch ist heute der Heiland gebörn / welcher ist Christus der HErr / in der stad Dauid. 12 Vnd das habt zum Zeichen / Jr werdet finden das Kind in windeln gewickelt / vnd in einer Krippen ligen. 13Vnd als bald ward da bey dem Engel die menge der himelischen Herrscharen / die lobten Gott / vnd sprachen / 14 Ehre sey Gott in der Höhe / Vnd Friede auff Erden / Vnd den Menschen ein wolgefallen (Das die menschen dauon lust vnd liebe haben werden / gegen Gott vnd vnternander. Vnd dasselb mit danck annemen / vnd darüber alles mit freuden lassen vnd leiden.) (Übersetzung Martin Luther 1545)

 

Vor vielleicht fünf Jahren kamen zwei ehemaligen Konfirmandinnen, Helene und Hanna, nach der Christvesper eigens zu mir in die Sakristei, um sich einmal zu melden und mir frohe Weihnacht zu wünschen. Darauf war ich gar nicht gefasst. Natürlich habe ich mich sehr gefreut, zumal es auch Konfirmanden gibt, die, wenn ich ihnen im Laden oder in der Straßenbahn begegne, tun, als hätten sie mich noch nie im Leben gesehen. Nicht so diese beiden jungen Damen, die es schon längst in die weite Welt verschlagen hatte. Aber zu Weihnachten mussten sie einfach nach Hause kommen, um Eltern, Familie und Freunde zu treffen, um in die Christuskirche zu gehen und sich zu vergewissern, dass es daheim immer noch schön ist.

 

Ich denke, bei aller Neugierde auf die Fremde - uns Menschen zieht es an gewissen Tagen unwiderstehlich in die alte Heimat zurück. Es würde uns etwas fehlen, wenn wir sie nicht hätten. Und wenn wir einmal verhindert sein sollten, fliegen doch mindestens unsere Gedanken nach Hause, wären auch tausende Kilometer dazwischen. Es muss die Sehnsucht nach Geborgenheit und nach einer heilen Welt dahinter stecken, dass alles gut würde und wir unverstellt sein dürften, wie wir sind, mitten im Kreise derer, die wir lieb haben. Ich vermute, darum sehnen sich so viele Menschen am Heiligen Abend nach ihrem Zuhause. Ja, das bleibt das Wichtigste, Mensch unter Menschen sein zu dürften. Dann bin ich zu Hause.

 

Da haben wir die Stichworte beieinander, die das Weihnachtsfest ausmachen: Sehnsucht, herzliche Gemeinschaft mit Menschen, die wir lieben, echte Nähe, die Feier des Lebens und eine tiefe Freude über all diese Dinge. Und wir sind sehr unglücklich darüber, wenn diese Sehnsucht enttäuscht wird und sich ungute Töne in die Feier hineinmischen. Vielleicht muss es in diesem Jahr nicht so sein.

 

Das große Thema von Weihnachten ist also das Nach-Hause-kommen. Es ist das Thema auch in einem noch viel weiteren und umfassenderen Sinne. Denn als Christus in Bethlehem geboren wurde, fand Gott ein zu Hause.

 

Wie ist das zu verstehen? Weihnachten hat eine Richtung. Es beschreibt eine Bewegung. Diese Bewegung geht eindeutig von Gott zu den Menschen hin. Dies zeigt die Engel an, von dem es heißt: "Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids."

 

Gibt es den "bloß-einen Gott" (Formulierung von Romano Guardini, Der Herr, Leipzig 1954, S. 1), der in anonymer Allgegenwart ewig-unsichtbar verharrt? Dass Gott sei, ein höchstes Prinzip, ewige Uridee, Grund alles Seins o. ä., das nehmen die meisten Leute an. Der christliche Glaube aber weiß, dass es diesen anonymen, gesichtslosen, "bloß-einen" Gott gar nicht gibt. Der Gott, den die Heilige Schrift offenbart und um den es heute geht, ist nur im Geheimnis der "Dreiheit der Personen in der Einheit des Lebens" (ibid.), als Vater, Sohn und Heiliger Geist zu bekennen. Das Weihnachtsfest markiert den Punkt, an dem Gott in dem Menschen sichtbar wird. In der Geburt dieses Kindes von Bethlehem wählt Gott ein zu Hause, eine Heimat, einen Ort, an dem er sein darf und will. Am Christfest kommt Gott "in sein Eigentum". (Joh 1,11)

 

Warum tut er das? Hätte es ihm nicht egal sein können, was die auf der Erde treiben? Er hätte abwinken können beim Gedanken an diese nervigen, selbstverliebten Kreaturen, die sich unablässig hassen und quälen.

 

Aber das hat er nicht getan. Das it die Überraschung des heutigen Tages. Es war in Gott eine solche Sehnsucht nach seinen geliebten Menschen! Es war sein innigster Wunsch, in eine herzliche Gemeinschaft mit ihnen hineinzukommen. Warum? Weil sie ihm nicht egal sind, sondern er überfließt von Liebe zu seinen Geschöpfen, zu dir und mir. Gott sucht eine wirkliche Nähe zu den Geschöpfen, die er sich als Gegenüber geschaffen hat. Für sie schenkt er sich als Kind, eine Feier des Lebens. Wie sollte uns bei solcher Erkenntnis nicht eine tiefe Freude anstecken, die wir teilen und weitertragen hinaus in diese Nacht.

 

Im übrigen meine ich, dass die Kirche Christus zu verkündigen hat, Freiheit, Wahrheit und Leben.

 

 

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019