Predigt am 3. Advent 2021, 1 Kor 4,1-5

von Pfarrer Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am 3. Advent 2021, 1 Kor 4,1-5

 

Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. Mir aber ist's ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar keiner Schuld bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und das Trachten der Herzen offenbar machen wird. Dann wird auch einem jeden von Gott Lob zuteilwerden. 1 Kor 4,1-2 

 

Ich habe mich an ein Kinderbuch erinnert, als ich diese Worte las. Vor vielen Jahren habe ich es meinen Kindern vorgelesen. Ich habe es hervorgekramt und mir die Handlung noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Es stammt von der britischen Schriftstellerin Frances Burnett, die es im Jahre 1911 veröffentlichte. Es trägt den Titel "The Secret Garden, Der geheime Garten."

 

Es geht um das Mädchen Mary Lennox, die bei einer Choleraepidemie in Indien ihre Eltern verliert. Daraufhin muss sie als Waise zurück nach England. Sie findet Aufnahme bei ihrem Onkel, der scheinbar völlig allein ein riesiges, finsteres Schloss bewohnt. Der Onkel ist schroff und abweisend; Kontakt hat Mary nur mit wenigen Personen des Dienstpersonals. Mary wandelt vereinsamt durch die endlosen Zimmerfluchten des alten Gemäuers. Aber dieses Schloss birgt Geheimnisse. Eines Tages entdeckt sie hinter einem wuchernden Strauch eine Pforte. Dahinter befindet sich ein geheimer Garten. Dieser Garten wird zu einem Ort des Lebens und zu einer Quelle des Heils. In einer stürmischen Nacht wird sie von Schreien geweckt, die durch das Haus gellen. Sie geht ihnen nach und entdeckt ihren Cousin Colin, von dem sie nichts wusste. Colin erzählt ihr, was ihm eingeredet wurde: dass er sich separieren müsse, weil er schwer krank sei, nicht laufen könne und bald sterben werde. So jedenfalls lautet das Urteil über ihn und seinen Gesundheitszustand. Später zeigt sich, dass er kerngesund ist und nur wegen vermeintlicher Krankheit abgesondert werden müsse von allen anderen Menschen. Nach einigem Hin und Her kann sie ihn überreden, mit ihr in den geheimen Garten zu kommen. Das Lebensgeheimnis dieses Gartens verwandelt auch Colin. Dort gewinnt er Vertrauen; dort fasst er Mut; dort beginnt er wieder zu laufen. Stück für Stück gewinnt er das Leben zurück durch die Heilkraft des geheimen Gartens, die Mary und ihn erfasst. Und alles wird gut. In Kinderbüchern wird am Ende immer alles gut. 

 

Der Apostel Paulus redet davon, dass wir Christen "Haushalter der Geheimnisse Gottes" seien. Ich verstehe ihn so, dass er uns daran erinnert, dass wir Verantwortung tragen für das "Haus unseres Lebens". Es ist uns von Gott übereignet und wir sollen in Treuen verwalten, hegen und pflegen, was in dem "Haus unseres Lebens" vorgeht. Das heißt, es ist nicht egal, wie es bei uns "zu Hause" zugeht. 

 

Nun birgt aber auch unser "Haus unseres Lebens" ein kraftvolles Geheimnis. Es gibt einen geheimen Mittelpunkt unseres Daseins. Das ist der Kraftquell all unseres Tuns, unseres Durchhaltens und unserer Freude. Es schenkt uns gute Ideen. Es lässt uns die finsteren, endlosen Gänge des Daseins plötzlich und im Nu beschwingt durchschreiten. Denn wir leben ja aus diesem Geheimnis. 

 

Wir kennen dieses heilsame Geheimnis. Es ist der dreieinige Gott, besser gesagt, das Wirken und Weben des dreieinigen Gottes in unserer Welt und unserem Leben. Es ist der Vater des Vertrauens. Es ist sein Sohn Jesus Christus, der in diese Welt gekommen ist und wieder kommen wird. Und es ist die Gegenwart des Heiligen Geistes, der uns das Geheimnis Gottes in der Welt in dauernder Erinnerung hält.

 

Noch ein Wort zum "Geheimnis". Ein Geheimnis ist kein Rätsel, denn Rätsel kann man lösen. Dann hören sie auf, Rätsel zu sein. Ein Geheimnis dagegen bleibt stets ein Geheimnis, wirkt als Geheimnis und erzeugt Staunen, Verwundern und Begeisterung. Der dreieinige Gott offenbart sich aber so, dass er nicht aufhört, ein Geheimnis zu sein. Er offenbart sich als Geheimnis der Welt und bleibt auf ewig ein Geheimnis, so dass unser Verstehen nur Stückwerk ist, ein ständiges Kreisen um das Geheimnis, voller überraschender Wendungen und Einsichten.  

 

Halten wir fest, dass der dreieinige Gott das Geheimnis unseres Lebens ist, ein Kraftquell und eine Ermutigung in allem, was geschieht. Aber als treue Haushalter der Geheimnisse Gottes haben wir die Pforte zu dem geheimen Garten gefunden, in dem wir Heil und Heilung finden. Im Glauben durchschreiten wir sie.

 

Der Apostel Paulus zieht eine interessante Folgerung aus der Tatsache, dass wir treue Haushalter der Geheimnisse Gottes seien. Er fordert uns nämlich überraschenderweise dazu auf, sich selbst nicht ständig ins rechte Licht zu setzen und andere vorschnell zu verurteilen. 

 

Das bleibt ja eine Gefahr für jeden von uns. Vor allem, wenn man auf den Zug einer Mehrheitsmeinung aufspringt und sich das eine oder andere vorgegebene Urteil zu eigen macht, das die Masse teilt. Christen machen dort nicht mit. Warum? Weil sie das heilige Geheimnis verlören, wenn sie sich selbst immerzu gerecht sprächen und anderen immerzu die Schuld unter die Weste jubelten. Hier entfalten die Gedanken des Apostels Paulus eine ungeahnte Aktualität.  

 

Liebe Schwestern und Brüder, im Namen der "Geheimnisse Gottes" rufe ich euch auf: "Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und das Trachten der Herzen offenbar machen wird." Ich vermute, unser Erschrecken wäre groß, wenn wir das finstere Trachten der Herzen durchschauen würden, das uns zu Verurteilungen verführt. Bloß gut, dass es nicht unsere Aufgabe ist, hier Richter zu sein. Das Leben aus den Geheimnissen Gottes bewahrt uns gerade davor, durch voreiliges, selbstverliebtes und narzisstisches Richten und Verurteilen schuldig zu werden. 

So sind es zwei Dinge, um die es heute geht: um die Bewahrung der heilsamen Geheimnisse Gottes; sodann darum, das voreilige Verurteilen zu unterlassen. Beides hängt zusammen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Völker Europas nur eine Zukunft haben, wenn sie zum Leben aus den Geheimnissen Gottes zurückfinden.

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019