Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, den 27. Juni 2021, Gen 50,15-21

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, Gen 50,15-21

 

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns vergelten alle Bosheit, die wir an ihm getan haben. 16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr Josef sagen: Lieber, so vergib nun diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters. Aber Josef weinte, da sie solches mit ihm redeten. 18 Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19 Josef sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Denn ich bin unter Gott 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, dass er tat, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch versorgen und eure Kinder. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. Gen 50, 15-21

 

"Manche sagen, es gebe nur zwei Dinge auf der Welt: Gott und Angst; Liebe und Angst sind die beiden einzigen Dinge. Es gibt nur eines auf der Welt, was von Übel ist, nämlich Angst. Es gibt nur eines auf der Welt, was gut ist, nämlich Liebe ... Jedenfalls gibt es kein einziges Übel auf der Welt, das sich nicht auf Angst zurückführen ließe, kein einziges." (Anthony de Mello, Der springende Punkt, Freiburg et al. 1994, S. 67)

 

Dies ist eine scharfsinnige und überraschende Beobachtung des indischen Jesuiten Anthony de Mello, den ich sehr verehre. Am Grunde aller Probleme unseres Lebens steht die Angst, die es zerstört. Alle Unsicherheit, alles Besserwissen, alle Überheblichkeit, alle Aggression und alle Gewalt gehen aus der Angst hervor. Sie sind Transformationen dieser existenzbedrohenden Macht. Dabei hat die Angst die dämonische Eigenschaft, sich wie ein Chamäleon anzupassen und sich zu verschleiern. Aber sie ist in der Welt und sie ist aus der Welt. "In der Welt habt ihr Angst", spricht Christus.

 

Die zehn Brüder des Joseph, die ihn loszuwerden trachteten, ihn schlugen, in den ausgetrockneten Brunnen warfen und schließlich an die ersten besten Händler als Sklaven verkauften, waren von Angst getrieben. Bei ihnen hatte sie die Gestalt der Missgunst und des Neides angenommen. Aus Angst, in den Augen des Vaters nicht gleichwertig zu sein, in der eigenen Wertschätzung beschnitten zu werden und an seinem Segen nicht ausreichend Anteil zu haben, waren sie vom Hass überwältigt worden. Hassend gedachten sie ihr Problem zu lösen, nicht ahnend, dass es sich vervielfältigen würde. Denn diese Tat ließ sie von Stund' an nicht nur als Gesetzesbrecher und Lügner dastehen, sondern holte sie nach Jahrzehnten schreckhaft ein, als die Wahrheit herauskam und erst recht, als der Vater starb. Nun wussten sie sich alles Schutzes beraubt und der Rache Josephs preisgegeben.

 

Sie kalkulierten folgerichtig und menschlich und ihre Angst war sehr begründet. Aber sie waren dabei kleingläubig. Vielleicht stand es gar noch schlimmer. Die Angst hatte Gott aus ihrem Leben vertrieben. Sie waren einen Moment lang geschüttelt von gottloser Angst. Nimm Gott weg, dann bleibt nichts als die Angst.

 

Ich fürchte, hier liegt eine geistliche Erkenntnis auch für die Gegenwart beschlossen. Betrachtet man die Zwistigkeiten der Gegenwart, die uns die Tendenzpresse so fröhlich präsentiert, springt uns dieser Zusammenhang geradezu an. Denn zeichnen sich die aktuellen Themen der Öffentlichkeit nicht sämtlich dadurch aus, dass sie angstgetrieben sind und erklärtermaßen ein offenes Gespräch gern schon im Keim ersticken? Wie steht es mit der Angst vor einer Corona-Infektion, der Angst vor Impfgegnern, der Angst vor Querdenkern, der Angst vor allgegenwärtigem Rechtsradikalismus, der Angst vor Rassismus, der Angst vor dem Klimawandel, der Angst vor Nichtbeachtung gendersensibler Sprache, der Angst vor nationalstaatlicher Historiographie und Politik usw.?

 

Hätten die Jakobssöhne fest im Glauben gestanden, wäre ihnen bewusst gewesen, was Joseph in so herrliche Worte bringen konnte. "Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen." Vielleicht wurde die ganze Josephs-Novelle um dieser Erkenntnis willen erzählt. Gottvertrauen vernichtet alle Angst.

 

Hatte Joseph Grund so zu sprechen? Wird ihm nicht übel mitgespielt? Nun, er ist nicht unschuldig - welcher Mensch ist unschuldig? Es gehören immer zwei dazu. Aber die Schicksalsschläge, die ihn treffen, erscheinen trotzdem unverhältnismäßig hart. Wegen Überheblichkeit von den eigenen Brüdern in die Sklaverei verkauft zu werden oder schuldlos wegen einer Sexualstraftat ins Gefängnis geworfen zu werden, das darf man als himmelschreiende Zumutung betrachten. Diese Dinge geschehen und es gibt kein Rad der Geschichte, sie wieder zurückzudrehen. 

 

Wo nun steckt Gott bei alledem? Joseph hätte voller Entrüstung fragen können: Wie konnte Gott das nur Zulassen?! Von dieser Frage, die sehr modern und sehr töricht ist, ist er aber weit entfernt. Er antwortet den verzweifelten Brüdern: "Fürchtet euch nicht! Denn ich bin unter Gott." Das heißt, Gott allein wusste, zu welchem Ende er die Geschichte bringen wollte und wie er die menschliche Anschlägigkeit auf das Leben in Segen verwandeln wollte - und er hat es getan.

 

Wir Menschen stehen unter Gott. Das ist wichtig festzuhalten. Man trifft heute ständig Leute, die davon durchdrungen sind, mit ihren Plänen, Meinungen und Maßnahmen richtig zu liegen, im Gegensatz zu anderen Leuten. Nicht, dass sie der Stadt Bestes suchen und sich dafür einsetzen ist zu missbilligen; das tun wir alle nach Kräften und so gut wir vermögen. Aber dass sie sich zu Richtern über Gut und Böse aufschwingen und zum Maß aller Dinge machen, das ist eine Katastrophe, aus Angst geboren und Angst verbreitend.

 

Josephs korrigiert solche irrige Ansicht. Er verweist auf Gott, den tragenden Grund der ihm und seinen Brüdern gemeinsam ist. In diesem Glauben wird er zum "Ernährer" und vermag seine Brüder und das Volk Israel in eine gute Zukunft zu führen.

 

In allem Gott vertrauen, dass er von langer Hand Vorkehrungen getroffen hat, um unser Unglück zu wenden - dieser herrliche Gedanke ist der Ausweg aus allen Nöten, die uns, unsere Familien, unser Volk und diese Welt betroffen haben und betreffen werden. Das kann man von der Josephsgeschichte lernen. Gottvertrauen ist das Ende der Angst.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019