Predigt am Sonntag Invokavit, den 21. Februar 2021, Joh 13,21-30

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Sonntag Invokavit, den 21. Februar 2021, Joh 13,21-30

 

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist's? Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte. Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht. Joh 13,21-30

 

Was Johannes hier berichtet, verbreitet Angst und Schrecken. Es wird immer schlimmer. Dabei ist es kunstvoll erzählt und auf's Wort gestellt. Es wird berichtet, wie Christus klar wird, was ihm bevorsteht. Im Geist Gottes blitzt auf, was geschehen soll und wird. Scheinbar forciert Christus sein düsteres Geschick sogar. Die Dinge nehmen ihren schlimmen Lauf. Es stehen Unverständnis, Irrtum, Verrat und schließlich das Böse selbst im Raum. Der Satan bricht während eines gemeinsamen Mahles in den Kreis der mit Christus versammelten Jünger ein. Es ist ein schreckliches Geschehen. An der kunstvollen Erzählung dieser Episode möchte ich drei Momente hervorheben.

 

Die Jüngerkonstellation ist interessant. Da haben wir zunächst den namenlosen Jünger, von dem es heißt, dass ihn Jesus lieb hatte. Man bezeichnet ihn oft als "Lieblingsjünger". Es gibt ihn nur im Johannesevangelium. Er taucht an verschiedenen Stellen auf. Man weiß nicht ganz genau, wer er ist. Seine Identität ist etwas geheimnisvoll. Ich glaube, das ist Absicht. Sein kompletter Gegenpart ist Judas. Dem Judas ist bestimmt, der Verräter zu werden. Die kleine Notiz, dass er "den Beutel hatte", verweist auf seine Position als Kassenwart im Jüngerkreis. Auch die dreißig Silberlinge, die in den späteren Geschehnissen eine Rolle spielen werden, verweisen darauf, dass er einen Hang zum Gelde hatte.

Der Apostel Petrus schließlich steht hilflos in der Mitte. Er versteht nicht, was hier zwischen Jesus und Judas passiert. Er sucht sich hinter den Lieblingsjüngers zu klemmen, um Klarheit zu erlangen. Der soll herausbekommen, wie Jesus meinte, was er sagte.

 

Das ist das zweite, wie hier mit dem Motiv des Missverständnisses und der Unwissenheit gespielt wird. Wir Hörer werden mit Petrus als Fragende in die Geschehnisse hineingezogen. Denn es steht die ungeheuerliche Behauptung Jesu im Raum, dass einer ihn verraten wird. Wie ist das gemeint? Was geht hier vor? Petrus initiiert die Nachfrage des Lieblingsjüngers. Sie bewirkt die Klarstellung Jesu durch eine Zeichenhandlung.

 

Zum dritten macht die Art stutzig, in der Jesus den Verräter enthüllt. Er reicht ihm "einen Bissen" dar, d. h. er wendet sich ihm in einer Geste freundlicher Fürsorge zu. Ohne ein weiteres Wort ist nun alles klar. Es ist schauerlich, dass das Darreichen des Bissens in Zusammenhang mit der Einwohnung Satans gebracht wird. Ja, es scheint fast unerträglich, dass Satan unmittelbar nach dieser Geste der Zuneigung sich des Judas bemächtigt. Außerdem korrespondiert dieses stumme Darreichen schrecklich dem stummen Kuss des Judas, der den Verrat vollenden wird. Die abgründige Verdorbenheit Satans bewirkt den Verrat mit einem sinnentleerten Zeichen der Liebe. So ist es kein Zufall, wenn es am Ende heißt: "Und es war Nacht." Mit einem Hauch eisiger Finsternis endet die Erzählung.

 

Was machen wir damit? Wo steckt das Evangelium? Was offenbart sich nun in einer Geschichte, die so konsequent in die Finsternis der Nacht führt?

 

Wir müssen etwas ausholen, um tiefer blicken zu können. Keine Frage, auf den ersten Blick handelt es sich um ganz ungeheuerliche, verstörende Begebenheiten, die hier berichtet werden. Aber es gilt den zweiten Blick, denn nicht die Oberfläche offenbart das göttliche Geheimnis, sondern die Tiefe. Gott offenbart sich zugleich in "Grund und Abgrund". (Tillich)

 

Wir stoßen hier auf ein Charakteristikum der göttlichen Offenbarung, wie es der christliche Glaube immer erkannt und verkündigt hat. Im Unterschied zu allerlei anderen Religionen, die sämtlich von der Wirklichkeit Gottes reden, erblickt das Christentum Gott nicht primär in seiner Herrlichkeit, Macht, Größe, Stärke oder irgendwelchen spektakulären Machterweisen. Das ist geradezu unser Alleinstellungsmerkmal.

 

Im Unterschied zu ihnen glauben wir einen "verborgenen" Gott (deus absconditus). So hat es Martin Luther auf den Punkt gebracht. Der Grundgedanke ist, dass sich Gott ins Gegenteil hinein (sub contrario) verborgen hat. Und eben darin offenbart er sich nun. Der Glaube sieht mit Staunen und Erschütterung, mit "Furcht und großer Freude" das Paradoxe, das Kontrafaktische der göttlichen Offenbarung. Nicht die Höhe, sondern die Tiefe, nicht der Thron, sondern das Kreuz, nicht astrale Jenseitigkeit, sondern das Diesseits der Schädelstätte, nicht Unberührbarkeit, sondern Leiden, nicht Kraft, sondern Schwachheit, nicht Allmacht, sondern Ohnmacht, Dornenkrone statt Goldkrone, Gottverlassenheit statt Nähe, Tod statt Leben usw.

 

Von diesem Grundgedanken her möchte ich auch unsere Begebenheit deuten. Der arme Judas hatte seine Rolle zu spielen. Wir wissen nicht warum sie gespielt sein sollte, auch nicht warum ausgerechnet er unter den Jüngern den Verräter geben musste. Aber - schrecklich zu sagen - auch sein Handeln war in Gottes Plan, den Menschen zu erlösen, notwendig.

 

Zugespitzt gesagt: Ohne Judas kein Verrat Jesu, ohne Verrat keine Gefangennahme, ohne Gefangennahme kein Todesurteil, ohne Todesurteil kein Leiden, Sterben und Kreuz, ohne Kreuz kein Tod, ohne Tod kein Tod des Todes, keine Erlösung von meinen Sünden, kein Leben, kein Heil und keine Auferstehung, keine Verkündigung, kein Glaube, keine Hoffnung, keine Liebe. Halten wir diese verrückte Paradoxie fest, dass durch das Finstere hindurch das göttliche Licht scheinen sollte.

 

Für unseren Glauben bedeutet dies, dass er die mannigfachen Schattenseiten des Daseins, auch die bedrohlichen Mächte von Sünde, Teufel, Tod und Hölle, sehr wohl kennt, sie aber nicht das letzte Wort sprechen lässt, sondern sie vom Sieg Gottes in Christus umfangen sein lässt. Der Glaube dreht den Vers "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen" (Media vita in morte sumus" des Notker Balbulus) stracks um: Mitten im Tode sind wir vom Leben umfangen. Es ist hier nichts zu beschönigen und hinweg zu deuteln. Diese Mächte schrecken uns nach wie vor. Aber wir sehen uns und der Welt Schicksal nicht in ihnen erfüllt. Das Wort Gottes, dem wir trauen, steht dagegen.

 

Es gibt kein Schrecknis in unserem Leben, es sei, was es wolle, das jemals unsere christliche Hoffnung zerstören könnte, selbstverständlich keine Corona-Infektion oder eine andere böse Diagnose, kein arges Missgeschick, kein Versagen, keine Schuld, kein Verlust und kein Unglück. Das steht fest.

 

Ein letztes Wort zum Lieblingsjünger. Ich sagte schon, dass nicht ganz klar ist, wer das sein soll. Es wird ja nicht eigens gesagt. Die Tradition hat ihn gern mit dem Apostel Johannes, dem Verfasser unseres Evangleiums, identifiziert. Aber es gibt auch die schöne Deutung, dass er stellvertretend für uns, die Gläubigen steht. Ich bin Anhänger dieser Deutung.

 

Dann bin ich es oder du und jeder von uns Gläubigen, von dem Christus sagt, dass er uns lieb habe. Ist wohl vorstellbar, dass wir es sind, die an seiner Seite sitzen, sich an ihn lehnen, auf dass wir seinem Herzen besonders nahe seien? Die unter dem Kreuz ausharren? Und die der Botschaft vom Auferstandenen glauben können, ohne zu sehen?

 

Dann sind wir mitten in der Geschichte. Der lebendige Christus zieht uns in seine Nähe. Wo er ist, will ich auch sein. Und wo er ist, da gibt es keine Angst.

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019