Predigt 1. Sonntag nach Epiphanias, den 10. Januar 2021, Röm 12,3-4

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied. Röm 12, 3-4

 

Euphorbia polychroma lautet der wissenschaftliche Name der Goldwolfsmilch. Sie ist ein ganz bezauberndes Gewächs. Getreu ihrem Namen erstrahlt sie im Frühling leuchtend gelb. Aus einem vieltriebigen Wurzelstock wachsen bis zu 40 cm goße Triebe, die sich zu kugeligen Büschen entwickeln, Blüte an Blüte, prächtiger von Jahr zu Jahr. Von April bis Juni macht Euphorbia polychroma jeden Garten zu einem wahren Schmuckstück. Euphorbia polychroma sollte darum in keinem Garten fehlen.

 

Diese Pflanze ist äußerst raffiniert. Getreu dem Motto "mehr Schein als Sein" täuscht sie goldstrahlende Riesenblüten vor, die gar keine sind. In Wahrheit verfärben sich lediglich die obersten Laubblätter, die auch Hochblätter genannt werden. Sie gibt sich Mühe, von den wahren Blüten abzulenken, die völlig unscheinbar sind und in ihrer Dürftigkeit niemanden interessieren würden.

 

Es ist eine scheinbar unausrottbare Unart, unter den Menschen das zu sein, was Euphoriba polychroma im Reich der Blumen ist. Man hat gelegentlich den Eindruck, dass es ein geradezu notwendiger Sport geworden ist, sich wie mit riesigen Scheinblüten zu schmücken, um irgendwie nach oben zu kommen. Es gehört zu den Schattenseiten weiter Kreise in unserer Gesellschaft, dass sie in punkto Scheinblüte besondere Zuchterfolge vorzuweisen hat. Es ist ein Trauerspiel. 

 

Scheinblüten beim Menschen bringen den Apostel Paulus jedenfalls etwas in Rage. Wir wissen nicht, wen er konkret im Blick hatte. Aber er sieht sich veranlasst, diejenigen zu maßregeln, die offenbar mehr von sich zu halten geneigt sind, als ihnen gebührt, die sich so wichtig dünken, dass sie mit dem Mund immer vorne weg sein müssen und sich insgesamt für so unersetzlich halten, dass sie jedes Maß verloren haben.

 

Es scheint um den Glauben zu gehen. Irgendwie gibt es damals auch in der Kirche Leute (damals?), die der Meinung sind, besser oder richtiger oder tiefer zu glauben als andere. Der geistliche Hochmut ist nun eine verhängnisvolle Entgleisung. Er macht die Gemeinschaft kaputt, denn er schafft Abstand, spaltet und entwertet. Im Leben der Kirche soll es ihn nicht geben.  

 

Dieser Gedanke führt wie von selbst zu dem berühmten Bild der Gemeinde als ein Leib, der verschiedene Glieder mit verschiedenen Aufgaben hat, die alle wichtig sind. Ein Leib kann nur lebenstüchtig und -tauglich sein, wenn die Gliedmaßen gemäß ihrer Funktion arbeiten und zugleich ihre Grenzen kennen. Das ist doch klar. Der Fuß sorgt für den sicheren Stand und das Fortkommen, die Hand packt zu und das Auge ist für die klare Sicht zuständig. Wo kämen wir hin, wenn das alles durcheinander ginge? Oder wenn es nur Augen gäbe, die, wie in einem Raritätenkabinett, säuberlich in Spiritus eingelegt, herumständen und einen unablässig anglotzten, oder nur Füße oder nur Hände? Das wäre ja schon eher ein Gruselkabinett. Die Kirche ist keins von beidem. 

 

Der Apostel Paulus sagt noch etwas wichtiges: Das soll unter euch Christenmenschen so sein, denn Gott selbst hat es so eingerichtet. Gott habe "jedem das Maß des Glaubens zugeteilt". Er wollte, dass seine Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, die zum Herrn Jesus Christus gehörigen und aus der Welt Herausgerufenen wie ein Leib seien und also wie ein lebendiger Organismus in sinnvollem und notwendigem Zusammenspiel lebten. Gott wollte keine Ansammlung von Ego-Leuten, die immerzu irgendwelche Scheinblüten treiben. Solche Dinger gleißen und glänzen zwar, bringen aber keine Früchten hervor. Der Christenmensch aber soll aber an seinen Früchten erkannt werden, nicht an seinen Scheinblüten. Und so gibt er sich in die Welt hinein, aus der er nicht ist und in der er nicht aufgeht. 

 

Mit einem Wort, Gott wollte nicht, dass seine Kirche sie wie Euphorbia polychroma.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019