Christvesper am 24. Dezember 2020 Jes 11, 1-4

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN ... Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten." (Jes 11,1-4)

 

"Ich habe es doch selber gesehen", sagt man, wenn man anderen Menschen z. B. von aktuellen Fernsehbildern berichtet, die natürlich etwas Schlimmes zeigen. "Das und das habe ich da und da gehört", sagt man, wenn man eine wirklich wichtige Neuigkeit weiterzusagen wähnt. So wird heutzutage viel geredet. Der Augenschein und die Ohrenzeugenschaft stehen hoch im Kurs. Und die Leute glauben auch, dass sie gut informiert seien und das Weltgeschehen im Großen und Ganzen verstünden, wenn sie mit Bildern und Wörtern versehen worden sind. Sie glauben auch, wenn jemand sagt, dass es jetzt schon fünf nach zwölf sei oder dass jetzt unbedingt wieder einmal ein Ruck durch die Gesellschaft gehen müsse usw.

 

Ich möchte unbedingt zur Skepsis aufrufen, wenn so geredet wird. Ungläubiges Stutzen ist unbedingt angebracht, wenn uns wieder einmal jemand ganz aktuell, modern und zeitnah irgendeine panische Botschaft ans Herz legen möchte. Solche Leute suchen sich aller Regel wichtig zu machen. Aber sie sind es nicht.

 

Wie in jedem Jahr hören wir zu diesem Christfest auf die Weihnachtsbotschaft. Sie geht Jahrtausende zurück. Sie beginnt nicht mit Jesu Geburt. "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit ..." Denn die Prophetenworte, die Geburt des Christus ankündigen, sind sehr viel älter. Ja, bis dahin gehen wir zurück.

 

Diese Worte des Propheten Jesaja sind aus wirklich grauer Vorzeit. Sie sind so uralt, dass sie uns an die Wiege des Geistes unseres Daseins und unserer Zivilisation zurückführen. Der moderne Zeitgenosse mit all seiner oberflächlichen Panik mag sich die Augen wischen und fragen: "Wie kann es nur sein, dass solche Sätze auch nach mehr als 2700 Jahren in der Kirche immer noch gelesen werden, als wären sie für den heutigen Tag bestimmt? Der so genannte Fortschritt hat doch so gut wie alles geändert, sollte man meinen. Wie, bitte sehr, sollten wir da noch auf so alte Worte beherzigen dürfen?"

 

Eine vorschnelle Ablehnung wäre fatal. Das Wichtigste ist trotz der gewaltigen Entwicklungen, die die Menschheit genommen hat, noch immer aktuell geblieben. Und das hängt damit zusammen, dass wir Menschen uns im Großen und Ganzen gleich geblieben sind.

 

Ich behaupte, es ist heilsam, sich an die alten Worte und Prophezeiungen zu erinnern. Sie sind die Wurzel, aus der wir unsere Kraft ziehen. Wir könnten uns solche Worte niemals selber sagen. Darum müssen wir auf sie hören. Sie sind uns aus einem fernen Gestern überliefert und verweisen in ein fernes Morgen. Es ist sehr wichtig, dass sie nicht aus dem Heute stammen, nicht aus dem Fernseher und nicht aus dem Radio, wo mehr oder weniger alles herstammt, was wir so glauben.

 

Und ich kann mit der Vollmacht der christlichen Verkündigung sagen: Ich habe mir diese Botschaft nicht ausgedacht. Ich tue auch nicht so, als sei ich im Ausdenken der Wahrheit kreativ und voller pfiffiger Ideen. Leute, die das tun, sind Windbeutel. Besser, man glaubt ihnen nicht.

 

Da stehen wir nun am Heiligen Abend 2020 und sagen mit voller Überzeugung: Unsere Botschaft ist von gestern. Sie ist sogar von vorvorgestern. Wir tragen diese alte Botschaft in Herz und Sinn, weil sie ewig jung bleibt. So trifft das alte Prophetenwort auf das Heute und hat uns noch etwas zu sagen.

 

Der Stamm ist noch nicht abgestorben, wie viele meinen. "Es wird ein Reis hervorgehen", es treibt überall da neu aus, wo das Wort Gottes verkündigt und geglaubt wird. Der Geist Gottes, der in dem Kind von Bethlehem unübersehbar in die Welt gekommen ist, kann diese Welt retten. Wir werfen all unsere Hoffnung auf ihn, denn sonst ist wenig Hoffnung für diese Welt.

 

Der Blick Jesu dringt tiefer. Er durchschaut die Oberflächlichkeit. Er schafft Gerechtigkeit. Die Schwindler und Betrüger werden nicht davon kommen. So alt die Worte sind, so nötig wichtig sind sie geblieben: "Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande."

 

Ach, dass dieses heilvolle Ereignis schon in unsere Gegenwart zurückstrahlte, das wäre mein wirklicher Weihnachtswunsch. Amen

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019