Gedanken zur Tageslosung am Mittwoch, den 8. Juli 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Ich will auch hinfort mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs Wunderlichste und Seltsamste, dass die Weisheit seiner Weisen vergehe." Jes 29,14

 

Das schöne Wort "wunderlich", mit dem Luther hier übersetzt, ist in unserem Vers verfremdend interessant. Wer heute "wunderlich" hört, hat gleich ein gewisses Bild vor dem inneren Auge. Die Erklärung des Duden lautet: "vom Üblichen, Gewohnten, Erwarteten in befremdlicher Weise abweichend". Weiterhin könnte man sich noch etwas Überraschendes, Aufdringliches und Verschrobenes hinzudenken.

 

Darf Gottes Handeln als "wunderlich" bezeichnet werden, d. h. als befremdlich, überraschend, aufdringlich, verschroben und sonderbar?

 

Wir müssen der Ehrlichkeit halber hinzusetzen, dass das Wort im Laufe der Jahrhunderte einen Wandel vollzogen hat. Wer dem nachgeht, wird entdecken, dass es schon im althochdeutschen existierte und die älteste Adjektiableitung zu "Wunder" ist. Erst seit dem 16. Jh. beginnt es mit "wunderbar" zu konkurrieren. Schließlich wird es von diesem verdrängt. Seit etwa 1700 ist "wunderlich" im Sinne von "sonderbar" übrig geblieben. (vgl. Grimms Wörterbuch, Bd. 30, Sp. 1903-1929)

 

"Wunderbar sein" entspricht auch der hebräischen Urbedeutung, für paelae` (pl`). Im konkreten Zusammenhang ist es das Spezialwort für das Rettungshandeln Gottes, das das Wunder "... nicht in der Durchbrechung einer objektiv feststehenden Ordnung (z. B. des Naturgesetzes) meint, sondern das Überschreiten des von einem Menschen in seiner Situation konkret Erwarteten und für möglich Gehaltenen ... Der Rettungsvorgang kann dabei ganz 'natürlich' sein ... pl`meint die neue, unerwartet Möglichkeit, die Gott dem Menschen 'im Abgrund' eröffnet." (Jenni/Westermann, THAT, Bd. 2, Sp. 417)

 

Das entspricht der Verwunderung, die Jesus entgegenschlug: "Viele, die Jesus zuhörten, verwunderten sich und sprachen: Woher hat er dies? Und was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? Und solche Taten geschehen durch seine Hände?" Mk 6,2

 

Nocheinmal zurück zu Luthers Übersetzung. Hätte er heute eher "wunderbar" gewählt? Vielleicht, korrekt wäre es gewesen, aber doch auch sehr schade. Ich finde nämlich "wunderlich" ganz ausgezeichnet.

 

Ja, ich empfinde Gottes Handeln gerade heutigentags als ausgesprochen "wunderlich". Und zwar in der ganzen Bandbreite seiner Bedeutungsmöglichkeiten: befremdlich, überraschend, aufdringlich, verschroben und sonderbar.

 

Es ist mir nicht fraglich, dass er der Herr der Geschichte ist und das verworrene Gespinst der Handlungsfäden wohlweislich in den Händen hält. Er wird wissen, was er tut. Ich leider nicht. Er wird in Segen verwandeln durch all wunderlichen Taten, wo ich beim besten Willen nur Irrung und Verfall sehen kann.

 

Denn ich stehe mit weit aufgerissenen Augen und staune von früh bis nachts über das, was mir an Brandaktuellem in Staat, Gesellschaft und Kirche entgegenspringt. Was werden hier für kapitale Böcke geschossen. Die "Weisheit der Weisen" jedenfalls muss vergangen sein, denn ich sehe sie nicht mehr.

 

Nun habe ich herausgefunden, dass ich solches Zeug am besten mit amüsiertem Kopfschütteln, ungläubigem Staunen und befreiendem Auflachen quittiere. Gott prüft uns. Er will, dass wir das durchstehen.

 

Warum? Es gibt einen Grund. Er möchte, dass wir mehr und mehr gespannt sind, dass wir entdecken, was er im Sinne hat, dass er "wunderlich" und nicht anders in der Welt wirken will. Er will weiter, dass wir zu Instrumenten seines "wunderlichen" Handelns werden, vielleicht auch als Narren und Clowns, die der "Weisheit der Weisen" den Spiegel vorhalten. Er will, dass wir in all dem Wirrwarr sein Rettungshandeln aufblitzen sehen, das den Menschen "am Abgrund" eine neue, unerwartete Möglichkeit zum Leben schenkt.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019