Narren

Luthers Tischreden und die Wahrheit in der Paradoxie

Narren sind Menschen, die es sich leisten können, gegen gängige Normen zu verstoßen. Man hat sie dafür bewundert, dass sie die Wahrheit sagen können, ohne dafür belangt zu werden. Denn die Wahrheit ist oft zu bitter, als dass sie unverstellt benannt werden dürfte. Nicht jeder kann sie ertragen. Narren nehmen sich die Freiheit, auch unliebsame Dinge auszusprechen. Man billigt ihnen eben eine Narrenfreiheit zu, die in der Welt der Rücksichtnahme, der Diplomatie und der Wohlanständigkeit nicht möglich ist.

In der Faschingszeit dürfen honorige Personen für kurze Zeit zu Narren werden. Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber seit einigen Jahren habe ich den Eindruck, dass das ausgelassene Faschingstreiben in Mitteldeutschland populärer geworden ist. Natürlich kann man es noch längst nicht vergleichen mit den Bräuchen im Rheinland oder in der Pfalz.

Seit alters hat das Fasching-Feiern den ursprünglichen Sinn, vor Anbruch der Fastenzeit noch einmal einen übermütigen frech-fröhlichen Akzent zu setzen. Am Aschermittwoch ist es dann vorbei damit. Denn nach der Arithmetik des Fastenkalenders - nach dem Vorbild Jesu 40 Tage zuzüglich der Sonntage, die ihrer Natur nach keine Fasttage sein können - begann die Betrachtung der Leiden Christi im Sinne der Nachfolge und des „Mitleidens“ am Mittwoch der siebenten Woche vor Ostern.

Der Zusammenhang von Fasching und Fastenzeit wird in einer der „Tischreden“ Martin Luthers deutlich: Von Narren. Doctor Martinus Luther sagete: „Es wäre zu Wurzen oder je nicht weit davon ein Narre gewesen, der hatte sich in der Fastnacht traurig gekleidet, ubel gehabt und kläglich gestellet; hinwiederüm, in der Marterwochen zoge er schöne Kleider an, und war fröhlich und guter Ding. Als man ihn nun fragete: warum er solches thäte? Da antwortete er: In der Fastnacht geschehen viel Sünden, da soll man billig traurig seyn; aber in der Marterwochen predigt man, wie Christus für die armen Sünder gestorben sey, drüm soll man fröhlich seyn. Das ist eine feine Rede gewesen von einem Narren.“ Luther hat zeitlebens einen ausgeprägten Sinn für Paradoxien gehabt. Er hat das Vexierspiel geliebt, in einer scheinbaren Selbstverständlichkeit das Gegenteil zu erblicken und damit eine frappierenden neue Erkenntnis zu gewinnen. In diesem Sinne ist er insgeheim selbst in die Rolle des Narren geschlüpft.
So kann es nicht verwundern, dass er den Narren lobt, der bei Wurzen sein Narrenwerk getrieben haben soll. Der gebärdet sich in äußerlicher Fröhlichkeit traurig, aber in zur Schau gestellter Traurigkeit fröhlich; scheinbar gegen jede Logik. Und doch ist es eine entwaffnende Erklärung, die er auf Nachfrage gibt.

Ich wünschte, wir Christen hätten die Fähigkeit, die Dinge, die uns begegnen, in dieser Weise bis auf den Kern zu durchschauen. Die Lebenslügen, über die wir zuweilen so gern lamentieren, würden – trotz allem – einer lebendigen Dankbarkeit weichen, die sich in folgendem kleinen Vers ausdrückt, den ich ebenfalls den „Tischreden“ Luthers entnehme und ganz wunderbar finde:

„Schweig, leid, meid und vertrag,
Dein Not niemand klag,
An Gott nicht verzag.
Dein Glück kommt all Tag.“

Ihr Pfarrer Ilgner

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Februar/März 2019